HERBERT LEUNINGER

Mission und Sozialberatung

Die besonderen Dienste der Kirche für ausländische Arbeiter

INHALT

Nach 20 Jahren . . .

. . . ein Jahr der Krise

Anwaltsfunktion der Seelsorger und Sozialberater

Die besonderen Aufgaben des Sozialdienstes

Nach 20 Jahren . . .

Das Jahr 1975 ist ein Jubiläumsjahr für die Ausländerbeschäftigung in der Bundesrepublik Deutschland. 20 Jahre Arbeiterwanderung aus den Randregionen Europas nach Deutschland, das bedeutet auch zwei Jahrzehnte pastoraler Dienst in den Ausländer-Missionen der Kirche und eine fast ebenso lange Phase der Sozialberatung durch den Caritasverband. In welche Rolle beide Einrichtungen hineingewachsen sind, wie sie sich heute verstehen, wird durch nichts deutlicher, als durch ihren Protest gegen die verschärfte Diskriminierung der ausländischen Arbeiter und ihrer Familien; ihre Stellungnahmen sind Jubiläumsbeiträge besonderer Art .

. . . ein Jahr der Krise

März 1975: Auf der Studientagung der italienischen Sozialberater des Deutschen Caritasverbandes in Rom erklären sich diese nicht mehr einverstanden mit einer Rolle, in der sie ihrer Erfahrung nach nur mehr „Löcher stopfen" und begrenzte, momentane Hilfe leisten. Sie fühlen sich von einer Gesellschaft in Dienst genommen, die für menschliche Existenznöte unvorstellbaren Ausmaßes verantwortlich ist, die entstandenen Probleme aber auf die Sozialdienste abschiebt, ohne die Ursachen anzugehen. Auf dem Hintergrund der derzeitigen Ausländerpolitik in der Bundesrepublik Deutschland sprechen sie von einer Ausnutzung der ausländischen Arbeitnehmer, die den Menschenrechten zuwiderlaufe. Dagegen wollen sie sich wehren: „Indem die Sozialdienste, die Sozialberater, Emigranten und die hiesige Gesellschaft als Verantwortliche in ihre Dienste miteinbeziehen, müssen sie sich als Zentrum und Herz der Kämpfe gegen die Gesellschaft und gegen die Ungerechtigkeit stellen, die von dieser verursacht wird."(1)

Zur gleichen Zeit wie die italienischen Sozialberater tagen vor den Toren Roms die Italiener‑Pfarrer aus Deutschland. In einer Stellungnahme zum Abschluß ihrer Jahrestagung sprechen sie von einem „Drama" der ausländischen Arbeiter, die in diesem Augenblick die Hauptlast der gegenwärtigen Wirtschafts‑ und Strukturkrise tragen müßten. Sie erklären sich solidarisch mit der Arbeiterschaft, und zwar im Geiste des Evangeliums und des Dokumentes der Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland über die ausländischen Arbeitnehmer: (Wir) „klagen die Politik des wirtschaftlichen Fortschritts an, die sich einzig und allein auf die Gesetze des Profits stützt und in welcher die ausländischen Arbeitnehmer als ein industrielles Ersatzheer bis zur bloßen Arbeitskraft und zum Tauschobjekt herabgewürdigt werden"(2).

Die Nationaltagung der Spanierseelsorger in der Bundesrepublik Deutschland formuliert in Dortmund ein Schreiben an Kardinal Julius Döpfner. Ausgehend von der Tatsache, daß ihren Landsleuten menschliche Grundrechte nicht gewährt werden, schreiben sie: „Das Problem der Verletzung der Menschenrechte an einem so hohen Prozentsatz der Bevölkerung der Bundesrepublik ist so schwerwiegend, daß wir glauben, die Kirche muß alle verfügbaren Mittel einsetzen (Predigt in den Pfarreien, Presse, Rundfunk und Fernsehen, politische und soziale Einflußnahme aufgrund ihres Ansehens . . .), um nicht nur die Regierung, sondern auch das ganze deutsche Volk auf dieses Problem aufmerksam zu machen"(3).

Mai 1975: In Freiburg befassen sich die spanischen Sozialberater vornehmlich mit der Lage auf dem Arbeitsmarkt, mit den Entlassungen und der Arbeitslosigkeit. Einer ihrer Beschlüsse lautet: „Um den ausländischen Arbeitnehmer in die Lage zu versetzen, sich vor (diesen) Willkürlichkeiten und anderen Ungerechtigkeiten, die z. Z. ihm gegenüber begangen werden, zu schützen und sich gegen sie zu wehren, ist es unserer Meinung nach unbedingt erforderlich, daß dieser gründlich informiert wird. Die Gruppe war sich darin einig, daß der Sozialberater aktiv an diesem Informationsprozeß teilzunehmen habe"(4).

Anwaltsfunktion der Seelsorger und Sozialberater

Von der harten politischen Wirklichkeit provoziert, treten Ausländer‑Pfarrer und ‑Sozialberater in einen neuen entscheidenden Abschnitt ihres Selbstverständnisses und ihres Tätigseins ein. Sie verlassen die ihnen zugewiesene Ecke, in der sie bislang unter größtem persönlichem Einsatz der täglichen Flut menschlicher Not zu steuern versuchten. Damit scheinen sie an ein Ende gelangt zu sein; nicht zuletzt deswegen, weil sie die Erfahrung machen mußten, daß sich die Gesamtsituation der Arbeitsmigration nicht verbessert hat, sie ist sogar hoffnungsärmer geworden. Damit finden sie sich nicht ab. Sie stoßen in den Raum kirchlicher, politischer und gesellschaftlicher Öffentlichkeit vor und reklamieren laut und vernehmlich als Sprecher ihrer Landsleute die menschlichen Grundrechte. Damit geben sie ihrer Arbeit eine im weiten Sinne des Wortes politische Dimension.

Für diese Veränderung der Szenerie ist nicht nur eine ausländerfeindliche Politik verantwortlich, sondern auch die wachsende Einsicht in die Bedeutung gesellschaftspolitischer und theologischer Analyse. Vielleicht ist aber die neue Phase der speziellen kirchlichen Ausländerarbeit noch deutlicher markierbar durch das Grundsatzdokument der Gemeinsamen Synode über die ausländischen Arbeiter (5). Hier hat die Kirche in Deutschland selbst einen entscheidenden Schritt nach vorn getan, der ihre Funktion angesichts der ausländischen Arbeiter mit bemerkenswerter Eindeutigkeit umschreibt. Als das Dokument verfaßt, ja sogar als es verabschiedet wurde, konnte noch niemand ahnen, wie bald die Kirche dazu gedrängt würde, ihr gegebenes Wort einzulösen.

Die Synode bezeichnet die Funktion der Kirche gegenüber den Ausländern gern als die eines Anwalts, der die Rechte der Ausländer zu verteidigen und ihre Chancengleichheit zu vertreten hat (6). Das heißt, sie sieht die Kirche in ihrer besonderen Verantwortung gerade den Menschen gegenüber, deren Rechte und Freiheiten durch gesellschaftliche Verhältnisse in ungerechter Weise eingeengt oder beschnitten werden. Anwalt muß die Kirche solange sein, wie die ausländischen Arbeiter noch nicht gleichberechtigte Partner in der Gesellschaft sind und ihnen die Möglichkeit fehlt, ihre Anliegen selbst mit Erfolg zu vertreten und durchzusetzen.

In scharfer Kritik heißt es in dem Synodenpapier, daß die Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer in der Bundesrepublik bisher zu sehr unter wirtschaftlichen und arbeitsmarktpolitischen Gesichtspunkten betrachtet wurde. Dagegen wird die Grundforderung erhoben: „Der Mensch muß wirklich als Mensch und darf nicht als bloße Arbeitskraft behandelt werden. Das bedeutet, daß die Wirtschaft im Dienst des Menschen stehen muß, und nicht der Mensch im Dienst der Wirtschaft. Die Ausländer sind keine Ware, die man nur nach dem Gesetz von Angebot und Nachfrage handeln kann“(7).

Die Synode sagt ausdrücklich, daß die Verpflichtung der Kirche, Anwalt der ausländischen Arbeiter zu sein, „eine Aufgabe von gesellschaftspolitischer Bedeutung" sei. Dies entspreche „dem Wort und Geist des Zweiten Vatikanischen Konzils und den Sozialenzykliken der Päpste"(8).

Die besonderen Aufgaben des Sozialdienstes

Natürlich beschränken sich weder die Sozialdienste des Caritasverbandes noch die Missionen auf die sozialpolitische Dimension. Die Wirklichkeit sieht vielmehr so aus, daß dieser Bereich bisher völlig ausgeklammert war. Der Katalog der sonstigen Aufgaben ist breit gefächert und das Bewußtsein der in den Diensten tätigen Personen so darauf konzentriert, daß das sozialpolitische Engagement als relativ neu erkannte Funktion den zukommenden Platz erst erhalten muß.

Es ist auch darauf hinzuweisen, daß Sozialdienst und Mission selbstverständlich unterschiedliche Aufgaben haben, die sich in unterschiedlichen Konzeptionen für die Arbeit niederschlagen müssen. Die dem jeweiligen Dienst entsprechenden Konzepte sind von der Synode noch nicht entwickelt worden. Sie hat nur einige wesentliche Elemente aufgegriffen. Für den Sozialdienst etwa wurde als Fernziel aufgestellt: „Die Befähigung der Ausländer zur Bildung eigener Organisationen mit eigenen Strukturen, damit die Ausländer als integrierte Minderheit gleichberechtigte Partner in der Gesellschaft werden"(9).

Die Synode versucht den Weg anzugeben, der zu diesem Ziel führt, indem sie nicht nur auf die Notwendigkeit von Einzelfallhilfe, sondern auch auf die der Gruppen-und Gemeinwesenarbeit hinweist. Was das näher heißt, ist in speziellen Rahmenrichtlinien aufgeführt, die der Zentralrat des Deutschen Caritasverbandes im April 1975 verabschiedet hat und in denen er sich ausdrücklich auf den Synodenbeschluß als Grundlage für die Rahmenorientierung beruft.

Wichtig ist der ausdrückliche Hinweis, daß den ausländischen Mitbürgern alle Einrichtungen und Beratungsdienste der Caritas in gleicher Weise wie der deutschen Bevölkerung zur Verfügung stehen. Um den Ausländern aber in ihrer besonderen Situation besser gerecht zu werden, unterhält der Caritasverband darüber hinaus die eigenen Sozialberatungsstellen. Über die Zuordnung des Spezialdienstes zum Gesamtdienst heißt es: „Der Sozialdienst des Caritasverbandes für ausländische Mitbürger ist integriert in den Gesamtdienst des Caritasverbandes"(10).

Anmerkungen

(1) Bericht der italienischen Sozialberater des Deutschen Caritasverbandes und der IPAS‑ANCOL über „Die Sozialdienste und die Emigration in Deutschland", Freiburg (masch. Vervielf.) 1975, S. 22.

(2) Presseerklärung der katholischen Italienischen Missionen in Deutschland und Skandinavien anläßlich der XX. Jahrestagung in Ariccia (Rom) vom 18. April 1975, veröffentlicht in dem Tagungsbericht (masch. Vervielf), Frankfurt 1975, S. 8.

(3) Schreiben der Nationaltagung der Spanierseelsorger in der Bundesrepublik Deutschland an Kardinal Dr. Julius Döpfner, München, veröffentlicht in den Tagungsunterlagen des Spanischen Oberseelsorgeamtes, Bonn‑Bad Godesberg 1975 (masch. Vervielf ).

(4) Beschlußfassungen der Jahrestagung der spanischen Sozialarbeiter in Freiburg, Mai 1975, masch. Vervielf. Bericht des Deutschen Caritasverbandes, Abt. Eingliederungshilfe, Referat Betreuung ausländischer Arbeitnehmer ‑ Spanien, Freiburg 1975, S. 1.

(5) Beschluß der Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland "Die ausländischen Arbeitnehmer ‑eine Frage an die Kirche und die Gesellschaft", u. a. veröffentlicht im Amtsblatt des Bistums Limburg, Limburg 1974, SS. 241‑257.

(6) Ebd., S. 242, Abschn. B.I, vgl. dazu ebd. S. 245, Absch. B.II. 8.

(7) Ebd., S. 243, Abschn. B.I. u. B.II.

(8) Ebd., S. 242 f, Abschnitt B.I, vgl. dazu ebd., S. 245, Abschn. B.II.8.

(9 )Ebd., S. 255, Abschn. C.II. 6.5 (nichtbeschlossener Begründungstext).

(10) Vgl. hierzu und zum Folgenden den Beschluß „Die ausländischen Arbeitnehmer" a.a.0. S. 245 f, Abschn. C.I. (nichtbeschlossener Begründungstext), S. 248 Abschn. C.I. 2.4. (nichtbeschlossener Begründungstext).