Prof. Dr. Ernst Leuninger 16.04.02 (letzte Vorlesung)

Geht die Gemeinde ins Exil?


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1. Der Weg des Südreiches ins Exil

2. Von der Versammlung am Tor zur Synagoge

3. Von der synagoge zur frühchristlichen ecclesia und paroikia

4. Ist für uns das "Exil" eine pastorale Herausforderung?

5. Perspektiven des Handelns

Literatur


Geht die Gemeinde ins Exil?

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Vor einiger Zeit sollte ich eine Gottesdienstvertretung in einem Dorf bei Limburg halten. Der Pfarrer hatte diese Absprache offensichtlich vergessen, die Kirche war sonntags um 10 Uhr in der Früh verschlossen, der Bäckerladen daneben war auf. Ähnlich ging es mir vor wenigen Wochen im Winterurlaub im Westerwald, die auf dem Ortsschild ausgezeichnete Uhrzeit führte mich am Sonntagmorgen zu einer verschlossenen Kirche, dann begann die Suche. Die Gemeinden hatten zwar noch eine Kirche aber keinen Ort der Versammlung am Sonntag. Geben wir damit einen der entscheidenden Orte christlicher Gemeinde, der von Anfang an da war, auf?

In meinen Vorlesungen war Gemeinde der Schwerpunkt. Gemeindebildung war der Ansatz der Arbeit, Gemeindeleitung und ihr Vollzug in kommunikativer Kompetenz ein wichtiger Akzent. Geht die Bedeutung dieses Themas jetzt zu Ende?

Gemeinde ist nicht nur von dem gesamtkirchlichen Erosionsprozess betroffen, so ging im Bistum Limburg der Gottesdienstbesuch von 1972 22.2% auf 2000 13,3% in knapp 30 Jahren um die Hälfte zurück, sondern sie ist auch in den pastoralen Grundsatzüberlegungen offensichtlich eine zu vernachlässigende Größe. Die hohe Zeit der Gemeindetheologie, die mit Klostermann "Gemeinde, Kirche der Zukunft" 1974 begonnen hat, ist vorbei. Aus der Not des mit derzeitigem kirchlichen Recht verhärteten Priestermangels "räumt" es in den pastoralen Planungen von Räumen massiv vor sich hin. In Köln erfolgt eine radikale Zusammenlegung der Pfarreien zu neuen Großpfarreien mit mehreren Kirchen.

In Brasilien, im Bistum Coroata, gibt es bei 190.000 Katholiken 19 Pfarreien in einem Riesengebiet; es gibt zwar viele Basisgemeinden, aber die Lücken scheinen vor allem die Sekten zu füllen. Ich verstehe pastorale Planungen als eine Notwenigkeit, die nicht vergessen lassen darf, dass wir in einem extremen Priestermangel stehen, der noch längst kein Ende hat. 1975 hatten wir der Kirche10 Jahre Zeit gegeben. Geht der Prozess so weiter, so müsste im Bistum Limburg ab 2010 ein Planungsprozess bei höchstens 50 Priestern für ca. 368 Kirchengemeinden beginnen, wobei eine gewisse statistische Reduzierung sich aus dem Rückgang an Katholiken ergibt, die dann so nicht mehr lebensfähig sind.

Ich will hier aber kein allgemeines Jammern beginnen. Das Thema "Geht die Gemeinde ins Exil?" soll ein Hoffnungszeichen sein. Dabei beziehe ich mich auf die Erfahrungen Israels mit dem Exil und dessen Überlebens- und Erneuerungsstrategien. Deshalb zuerst einmal der Blick zurück, auch deshalb weil uns unsere Bezeichnung als "ecclesia" als Versammlung des Gottesvolkes auf Israel verweist. Es ist damit auch unsere eigene Vergangenheit, die wir kennen sollten, damit es uns nicht die Zukunft kostet.

1. Der Weg des Südreiches ins Exil

Exil gab es auch schon vor dem großen Exil der Juden nach Babylon. Diese ethnischen Säuberungen und Verschiebungen dienten der Staatsfestigung der Großreiche, bezeugt seit etwa 1100 vor Christus. Das Nord- und das Südreich der zwölf Stämme Israels waren ja zwischen den Konfliktblöcken im Norden und Ägypten im Süden immer wieder in Auseinandersetzungen hineingezogen. 743 vor Christus war die erste Deportierung aus dem Nordreich, nach der Einnahme von Samaria sollen 722 v. Chr. fast 30.000 Gefangene deportiert worden sein. Außer der Tobiasgeschichte wissen wir wenig, was aus den Menschen geworden ist, vermutlich haben sie sich in ihrer Gegend assimiliert. Der Nordstaat Israel ist untergegangen.

597 v.Chr. wurde Jerusalem erobert, der Adel und die Handwerker wurden verschleppt, die Priester durften bleiben. 587 wurde der Tempel zerstört, wieder wurden Deportationen durchgeführt; es blieben nur die Nichtbesitzenden übrig. Etwa 50 Jahre später begannen die teilweise Rückkehr und der Wiederaufbau des Tempels mit der Einweihung 515 v.Chr. Ein Exil, das immerhin nach damaligen Verhältnissen zwei Generationen dauerte. Es wurde von den Betroffenen zuerst als Strafe gedeutet. Es gelang ihnen aber, sich in der neuen Umgebung zu behaupten. Sie hatten eine Mittelstellung zwischen Freien und Sklaven, einige wurden sogar zu Beratern der Herrscher.

Wie aber gingen die Juden mit dem Verlust ihrer örtlichen religiösen Mitte, dem Tempel, um? Natürlich litten sie unter dem Verlust des Tempels. Auch ihnen drohte die Assimilierung besonders deshalb, weil es den offiziellen Priesterkult nicht mehr gab. Der Untergang einer Religion ist in der Regel mit dem Untergang des zentralen Heiligtums besiegelt gewesen. Der Tempel zu Jerusalem war ja inzwischen zur einzig legitimen Opferstätte geworden, deshalb gab es keine Übertragung in die Verbannung. Eigentlich war dies wie das Herausbrechen des Schlusssteines eines Brückenbogens, der Zusammenbruch der Religion war programmiert. Was sicherte die Identität des jüdischen Volkes in der Verbannung, wenn es der Tempel als Symbol einer religiösen Gesellschaft nicht mehr war, in der bisher der Einzelne ungefragt und selbstverständlich seine Religion überwiegend in der Form von Riten vollzog.

Das waren sicher noch der in der Familie begründete Ritus des Osterlammes und familienorientierter Gebete. Familientraditionen benötigen aber der sozialen Stützung. Wie aber ist dies geschehen?

2. Von der Versammlung am Tor zur Synagoge

War Religion bisher überwiegend in der Einheit von Staat und Gesellschaft abgesichert, selbstverständlicher Bestandteil der Kultur, so musste sie in einer anders geprägten Kultur neue Absicherungen gewinnen, um nicht unterzugehen. Sie musste im unmittelbaren Milieu, der unmittelbaren Lebenswelt, und im Individuum abgesichert werden. Angeknüpft wurde für das Milieu bei der Institution des Stadttores. Für das Individuum entwickelte sich Religion als persönliche Frömmigkeit, die es so bisher kaum gab.

Das Stadttor ist ein alter orientalischer Ort der Kommunität einer Siedlung. Dort geschahen alle wichtigen Ereignisse, die ein Gemeinwesen betrafen, dort sprachen die Ältesten (Presbyter) Recht. Dies war eine verbreitete Institution mit vorwiegend politischen, weniger religiösen Akzenten.

Diese fielen in der Verbannung weg. Dafür wurde die Frage nach der Bedeutung der Religion in dieser Zeit umso deutlicher. Sie wurden zu Themen des Zusammentreffens. Das waren die Versammlungen der Gemeinde (hebräisch: Versammlung und Sammlung um Jahve), als griechische Übersetzungen kommen vor "synagoge" und ecclesia", übersetzt Versammlung-Gemeinde und "proseuche" übersetzt Ort des Gebetes). Ezechiel, der Prophet des Exils spricht in 11,16 von einem "kleinen Heiligtum", das Gott für sie in der Fremde geworden ist; der babylonische Talmud legt dies als Synagoge aus. Der Ort der Gemeindeversammlung - ein Ort im Freien - wird mehr und mehr zu einem Ort der religiösen Erinnerung, der Lesung des Gesetzes, der Lehre der Gebote, des Gebetes vor allem der Psalmen und es gibt auch Hinweise, dass es eine Versammlung des Gebetes war. Hinzu kam wohl auch das Mahlhalten. Es gab wohl auch Älteste in dieser Synagoge, dies könnte aus Ezechiel 9,6; 14,1; 20,1 erschlossen werden. Der Psalm 137 könnte ein Hinweis sein: "An den Flüssen Babylons saßen wir und weinten, als wir dein gedachten Sion". Entscheidend für die Erfindung dieses Gottesdienstes war, nicht nur für die Juden sondern für die antike Welt überhaupt, dass es ein opferloser Wortgottesdienst mit Lesung, Auslegung und Gebet war; eine Form des Gottesdienstes, die bis heute ihre Gültigkeit hat und Modell vor allem für Christen und Muslime geworden ist. Insgesamt verinnerlichte sich Religion bis zu persönlichen Formen der Frömmigkeit, es blieb der Raum der Familie als erstes religiöses Milieu.

Der Ort im Freien wurde dann in den letzten zwei Jahrhunderten vor Christus durch Gebäude abgelöst. Das war eine allgemeine Erscheinung auch in der Religion der Griechen. Der Text bei Nehemia 8 nach dem Exil (genaue Datierung ist umstritten) schildert eine solche Versammlung im Freien, die vor dem Wassertor in Jerusalem stattfindet, mit Gesetzesverlesung und abschließenden Mahl. Hier sind auch schon die Schriftgelehrten am Werk. In Philippi (Apg 16,13) versammelten sich die Juden auch mangels Synagoge im Freien an einer Gebetsstätte (proseuche) bei einem fließenden Wasser wegen der Reinigungsriten.

Die Synagoge war eine Versammlung, keine Einrichtung der offiziellen Religion, sie war auch nicht von den Priestern getragen. Das eigentlich einheitsbildende Band im 1. Tempel mit seinem Priestertum war untergegangen. Die Priester waren funktionslos geworden. Die Identität wurde gesichert durch Mitglieder des Gottesvolkes. Dabei gab es auch kein eigentliches Lehramt, das einheitsstiftende Band war das Gesetz und die Propheten und die Hoffnung auf die Erneuerung des Tempels. Damit überlebte das Volk die Zeit des Exils. Aber auch nach dem Aufbau des 2. Tempels nach der Rückkehr lebte diese Institution weiter und breitete sich aus, sowohl im Heiligen Land als auch in der Diaspora, der Zerstreuung. Nach der Zerstörung des 2. Tempels 70 nach Christus trug sie das Leben der jüdischen Gemeinden und Religion.

Ein verbreitetes Amt war der Synagogenvorsteher. Die Leitung hatte in der Regel ein Gremium von Ältesten, Presbyter. Die Ämter waren meist Wahlämter. Die Rabbiner als Gesetzeslehrer hatten ihre eignen Traditionen in Wander- oder festen Schulen, sie lehrten auch in den Synagogen, standen ihnen gelegentlich kritisch gegenüber, amtlich bestellte Lehrer waren sie erst im späten Mittelalter. Heute üben in Reformsynagogen sogar Frauen dieses Amt aus. Was auch zur Synagoge gehört, ist die geistige Auseinandersetzung mit der Umgebung und die Fortentwicklung des Glaubens z.B. in einer Gottesvorstellung, die über eine Stammes- und Volksgottheit zu einem universellen Gott hinausging. Ein eigentliches übergreifendes Lehramt hat es aber nie gegeben und die Synagoge wurde immer eine Sache der Mitglieder des Volkes Gottes, gegründet von der Basis her. So konnten und können denn in einer Stadt mehrere Synagogen bestehen zugleich auch mit unterschiedlichen Richtungen, die sich nicht gegenseitig ausschließen, aber auch oft genug in Auseinandersetzungen gerieten.

Die Synagoge war sowohl von ihrer Trägerschaft als auch von den unterschiedlichen Richtungen her menschennahe. Das Quorum von zehn (Minjan) Männern, neuerdings in Reformsynagogen auch Frauen, bei jedem Gottesdienst erinnert daran, dass jede Synagoge eine Gemeinschaft - letztlich das ganze Gottesvolk - repräsentiert. Diese Synagoge, rückgebunden an Gesetz und Propheten, stehend in einer Lehrtradition - wird zum eigentlichen Träger der jüdischen Identität. Der Tempel und der priesterliche Dienst, gebunden an den Tempel (Priester = Cohens gibt es abstammungsmäßig genügend), lebt nur noch als Hoffnungsperspektive.

3. Von der synagoge zur frühchristlichen ecclesia und paroikia

Die Synagoge bezeichnet zuerst die versammelte Gemeinde und dann ihr Gebäude. Das Wort ist eine Übersetzung von "kahal" der Versammlung des Gottesvolkes und analoger Worte. Die Synagoge wird immer mehr zu einem umfassenden Volkshaus mit unterschiedlichsten Einrichtungen. Sie verbindet vor allem die Menschen in der Zerstreuung, außerhalb Israels, das waren in der Zeit des 2.Tempels schon mehr, als in der Heimat wohnten. Die Diaspora, die zwangsweise in Babylonien entstand, entwickelte sich weiter; eine ihrer Großleistung auch für die Christen ist die Übersetzung der Bibel ins Griechische in Alexandrien. Es gab sie aber auch in Judäa und Galiläa.

Die frühesten schriftlichen Dokumente über die Synagoge stammen übrigens aus dem Neuen Testament. Der zentralistischen Bewegung auf den Tempel hin lief parallel eine Dezentralisierung auf die Synagoge hin. Das war die Rettung. Nach der Zerstörung des Tempels 70 n. Chr. wird es die Synagoge wieder zur einzigen Trägerin der jüdischen Religion. Sie überbrückte fast schon 2000 Jahre Exil. Die jüdische Synagoge wird identitätsstiftend, festhaltend und vermittelnd für die jüdische Religion. Nach einer alten Inschrift (Theodotinschrift in Jerusalem, datiert um/nach 100 v.Chr.) war dies Ort der Lesung, des Gebetes und Aufnahme von Fremden. Nach der Lesung war eine Auslegung, die ursprünglich von jedem vorgenommen werden konnte. Die Synagoge hatte religiöse und soziale Funktion. Sie konnte auch "ecclesia" genannt werden, mit derselben Bedeutung. Dieses Wort wurde aufgeben, als die Christen es mehr und mehr für ihre Versammlungen und Gemeinden wählten.

Jesus lehrte in Synagogen. Berühmt geworden ist der Auftritt Jesu in der Synagoge von Nazareth (Lukas 4,16-30). Dort verkündet er mit einem Text des Isaias die Ankunft des messianischen Reiches in ihm. In der ersten Phase erhält Jesus Zustimmung, dann erfolgt die Konfrontation bis zur Verfolgung. Diese Szene schildert zugleich die Geschichte der christlichen Ecclesia aus der Synagoge. An der Person Jesu kommt es zum Konflikt, der schließlich zur Trennung führt. Die Missionierung des Paulus geht noch an den Synagogen entlang, später bilden sich eigenständige ecclesiae, teilweise in den Häusern, so in Philippi im Haus der Lydia. Aber viele Elemente der Synagoge beeinflussen die junge Ecclesia. Sie ist wie die Synagoge den Menschen nahe. Es ist ihre Ecclesia, sie tragen sie wie ein Presbyterium die Synagoge, oder ein griechischer Kultverein seine religiösen Einrichtungen. In ihr haben Lesung und Gebet eine hervorragende Rolle. Auch das Mahl, das in der Synagoge zuhause war, findet seinen Platz. Sie werden wie diese zu Orten der Armenpflege. Sie meinen wie diese das ganze Gottesvolk und das ganze Heilswerk Jesu, des Auferstandenen, der die Mitte von der Ecclesia ist. So wie in Synagoge die Versammlung des Gesamtvolkes mitschwingt, so schwingt in den Versammlungen des neuen Gottesvolkes die Gesamtecclesia mit. Neu für die ecclesia ist ihr missionarisches Wirken.

Diese übernimmt dann später schwerpunktmäßig den Namen "ecclesia", die Einzelgemeinden werden zur "paroikia", zu denen, die in der Fremde, gewissermaßen in der Diaspora wohnen, ihre wahre Heimat aber im Himmel haben. Bei Entstehung der Landparoikie (Landpfarrei) aus der meist bischöflichen Stadtparoikie, geht dieser Name, der in der Tradition der biblischen "ecclesia" steht auf die Pfarreien über, für die Bischofskirche bleibt nur ein Verwaltungsbegriff, die Diözese.

4. Ist für uns das "Exil" eine pastorale Heraus-forderung?

Es ist nicht zu leugnen, wir leben in unserem Land, in den europäisch geprägten Industrieländern und vielen anderen Orten auf der Welt in einer massiven Kirchenkrise. Es ist hier weder Ort und Zeit diese auf allen Hintergründen zu analysieren. Zwei Elemente sind signifikant. Das ist die Erosion beim Gottesdienstbesuch, im Bistum Limburg hat er sich von 1972 bis 2000 halbiert. Dann folgt der gravierende Priestermangel. Im Bistum Limburg haben wir für 1985 mit einer Besetzungsdichte der Pfarreien durch Pfarrer von 50% kalkuliert, für das Ende dieses Jahrzehnts könnte es bei 25% liegen. Ein Priester für 15.000 Katholiken und etwa 7 Pfarreien. Dieses Jahr haben wird vermutlich das erste Jahr ohne Priesterweihe und das im Jahr des 175. Jubiläums der Existenz des Bistums. Mit Zeitverschiebung sieht die Situation in den deutschen Bistümern ähnlich aus. Das klassische Pfarramt, das über 1000 Jahre in allem Auf und Ab, in allen Höhen und Tiefen die Pfarrei geprägt hat geht seinem Ende entgegen. Sollte sich in den Zugangsbedingungen etwas ändern durch kirchliche Reformen, die unausweichlich erscheinen, dann wird sich aber auch in der Situation der Pfarrseelsorge vieles geändert haben. Ein einfaches Zurück wird es nicht mehr geben. Mit noch so vielen Kooperationsmodellen wird man die Frage des eucharistischen Gottesdienstes nicht lösen können. Schon heute ist in vielen Fällen die Grenze der Belastbarkeit erreicht. Wenn die Ruheständler nicht wären, ginge in vielen Gebieten schon heute nichts mehr. Die frühmittelalterliche Kirche wusste noch um die Bedeutung der Nähe des Pfarrers und formulierte: "parochus cognoscet oves suas facie", der Pfarrer kenne seine Schafe von Angesicht. Heute sehen die Gläubigen meist nur noch die Rücklichter des Autos vom Pfarrer.

Die Gefahr ist, dass mit den Überlegungen zur Kooperation die Basis der Pastoral auf der Strecke bleibt. Gemeinde wird nicht mehr nach den Bedürfnissen der Menschen gebildet, sondern nach der Zahl der Priester, statistisch hätten wir dann in 15 Jahren etwa noch 50 Pfarreien, diese Gleichung kann es nicht sein.

Es gab zwei Varianten des ersten Exils, einmal der Untergang der Tradition des Nordreiches, zum andern die Besinnung auf eine neue Identität in der Synagoge, die sich daraus entwickelte. Wir sollten das "Exil" des Priestermangels aus Herausforderung annehmen, vielleicht können wir von der Synagoge einiges lernen, wie Gemeinde zu neuer Identität findet. Für mich ist Gemeindetheologie nicht am Ende, sie fängt neu an. Schon längst nicht mehr in der Gesellschaft ist Christentum zu begründen und zu sichern, sondern in der Nähe des Milieus einer Gemeinde und in der religiösen Identität der Beteiligten. Bei Wahrung der notwendigen Subsidiarität gilt, je mehr wir gezwungenermaßen nach oben verlagern, umso weniger gelingt die Bildung von religiöser Identität.

5. Perspektiven des Handelns

Die Juden haben nach dem Verlust der kulturellen Begründung von Religion Orte der eigenen Identitätsbildung gesucht und sich dafür das Milieu der Synagoge geschaffen. Auch wir brauchen zur christlichen Identitätsbildung Milieus in den kleinen Lebenswelten der Menschen, in denen das christliche Leben in Gemeinschaft unmittelbar erfahrbar wird, dafür brauchen wir lebendige örtlich und geistig menschennahe Gemeinden. Der gesellschaftlich-kulturelle Zusammenhang trägt religiös nicht mehr, die Familie bedarf der Stützung durch das Milieu einer Gemeinde. So wird die menschennahe Gemeinde zum Angelpunkt der christlichen Religion in unserer Gesellschaft. Dazu sollen einige Thesen aufgestellt werden, die zugleich auch Handlungsperspektiven für die Weiterentwicklung der Gemeinde sein wollen.

1. Die Juden haben sich nicht damit abgefunden, dass es da weitweg einmal einen Tempel gegeben hat, sie wollten Religion in ihrer Nähe haben. Gemeinde muss nach wie vor in Menschennähe sein. Wir dürfen hier dem gesellschaftlichen Drang zur Großorganisation von Bedürfnissen nicht nachgeben, viele Dörfer z.B. sind heute schon ohne Einkaufsmöglichkeit. Die Kirche muss in unseren Gemeinden bleiben. Sie sind vor allem den kleinen Lebenswelten verpflichtet. Ihre Menschennähe darf nicht in Großstrukturen aufgelöst werden, sondern muss den Menschen möglich machen, selbst Kirche zu sein, weil Identitätsbildung vor allem in den unmittelbaren Lebensbezügen beginnt. Dazu gehören nicht nur die Gemeinde selbst, sondern ihre vielfältigen Basisstrukturen wie Gremien, Gruppen und Verbände, weil dort vor allem identitätsstiftendes Milieu erfahrbar wird und mitgestaltet werden kann.

2. Die Exilierten sind selbst synagogengründend geworden und haben sie getragen. Als das Volk Gottes haben sie diese Verantwortung übernommen. Das entscheidende Element von Gemeinde ist die Selbstorganisation. Das muss noch deutlicher herausgearbeitet werden. Der Gedanken vom Volke Gottes, das in Verantwortung für die Kirche handelt, muss noch konkreter werden. Die kraft des über ihnen ausgegossenen Geistes muss spürbar werden. Unsere synodalen Strukturen sind dazu ein guter Weg. Wir werden sie mehr denn je gebrauchen, ja noch viel deutlicher als bisher. Ohne sie dürfte es keine Zukunft der Kirche geben, die Kirche muss noch mehr im Sinne des Zweiten Vatikanischen Konzils Volk-Gottes-Kirche werden. Kirche ist Sache der unmittelbar Betroffenen, das gehört zur Identitätsbildung.

3. Die Juden haben regelmäßig sich am Sabbat zu Lesung und Gebet getroffen. Opfer waren ihnen nicht gestattet, diese waren nur im Tempel zulässig. Sie fanden neue Wege für Gottesdienste. Die Feier des Gottesdienstes ist das einende Band der Gemeinde. Sie darf nicht rotieren und zu einer Parkplatzgemeinde mutieren. Der Sonntagvormittag muss als Gottesdienstzeit trotz aller Probleme gewährleistet bleiben und nicht nur für eine Restgemeinde, die nicht Auto fahren kann. Die Gemeinde braucht ihr eigenes Treffen, sonst verliert sie ihre Identität und löst sich letztlich auf. Wir dürfen ihn nicht abgeben, sonst geben wir eine uralte kulturelle Tradition ab, aber auch ein sinnstiftendes Element unserer Gesellschaft. Ohne den Gottesdienst am Sonntagvormittag wird der Sonntag nicht zu retten sein, so sehr auch die andere Tradition des Herrenmahles am Sonntag gesehen wird. Die Gemeinschaft des Gebetes muss verlässlich von Ort, Zeit und Personen erfahrbar bleiben.

4. Die Synagoge hatte Gesetz und Propheten. Sie hatten eine Hoffnung auf die Ankunft des Messias, dessen Botschaft vor allem muss bei uns lebendig werden. Das von Jesus verkündete Reich Gottes, mit dem Auftrag "den Armen das Evangelium zu verkünden", ist in ihm gekommen. Jede Gemeinde ist fortlebender Christus, hat den gleichen Auftrag wie er, die Botschaft von der Ankunft des Reiches Gottes zu verkünden. Hier setzt vor allem auch Bibelarbeit im gesellschaftlichen Kontext ein, Bibelarbeit die als lebensförderlich erfahren wird.

5. War die Synagoge die um Jahve versammelte Gemeinde, so ist die Gemeinde um Jesus versammelt. Sie ist der Ort der Begegnung mit ihm durch die Begegnung miteinander. Zugleich aber auch ist sie die Möglichkeit für die Welt, durch die Gemeinde als dem fortlebenden Christus ihm zu begegnen.

6. Die Menschen in der Synagoge schufen sich ihre Aufgabenfelder. Das gewachsene Engagement von Laien in den verschiedenen haupt- und ehrenamtlichen Diensten ist weiter zu fördern. Ich weiß, dass wir in diesem Bereich die Zahl der Studienanfänger auch in einer Krise ist. Wir haben aber schon erfreuliche Erfahrungen mit pastoralen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern machen können. Frauen sind aus diesen Berufen nicht mehr wegzudenken. Das ist gut so. Bei der notwenigen Rekonstruktion des geistlichen Leitungssamtes in der Gemeinde dürfen sie nicht außen vor bleiben.

7. Die Synagogen haben sich immer für die Armen und für die arme Jerusalemer Gemeinde verantwortlich gefühlt, es ging ihnen aber oft auch ums Überleben. Gerade im Denken an andere haben sich in der letzten Zeit in unseren Gemeinden neue Perspektiven geöffnet. Wer wie ich in der Weltkirche rumkommt, sieht was hier von der deutschen Kirche und von vielen Pfarreien beispielhaftes geleistet wird. Der sozialpastorale Ansatz der Gemeinden im Sinne von der befreienden südamerikanischen Theologie von Medellin (Vorläufer der Befreiungstheologie) muss deutlich herausgestellt werden.

8. Synagogen gab es in den unterschiedlichsten Schattierungen. Sie kamen im wesentlichen bei sicher auch manchen Streitigkeiten miteinander aus. Alle fühlten sich dem Gesetz verpflichtet. Auch so kann Ökumene gehen. Hier leisten die Gemeinden schon in der Regel gute Arbeit. Sie können aber ein wesentlicher Faktor zur Einheit in der Vielfalt werden. Die zwischenkirchlichen Streitigkeiten werden normalen Mitbürgern in Zukunft kaum noch einsichtig zu machen sein. Gute Nachbarschaft gehört zu den Grunderfahrungen der Menschen.

9. Die Synagoge war und ist die entscheidende identitätsstiftende Einrichtung der jüdischen Religion. Deshalb gilt es die Gemeinde als die unverzichtbare Basis kirchlichen Arbeitens primär im Blick zu behalten. Sie ist in ihrer Menschennähe die erste und entscheidende identitätsstiftende Größe der Kirche. Dies heißt nicht, dass es andere Felder des Arbeitens gibt und geben muss. Keine Frage, dass sie in der Erfüllung ihrer Aufgabe Hilfe benötigt. Hier hat der pastorale Raum seine Bedeutung, der auch für übergreifende Aufgaben zuständig ist. Er muss aber von seinem Wesen her vom klassischen Subsidiaritätsprinzip, das nach Nell-Breuning auch für die Kirche gilt, verstanden werden. Er hat keine Aufgaben an sich zu ziehen, die die Gemeinde leisten kann und muss und hat dieser nach Möglichkeit zu helfen, die ihr wesensgemäßen Aufgaben zu leisten.

10. Synagogen verstanden sich dem gesamten Volk Gottes verbunden. So gehören Gemeinden zu einem Netzwerk des ganzen Gottesvolkes und sind mit diesem hineingewoben in das Schicksal der ganzen Menschheit. Deshalb sind sie offen für die Nachbarn und die Probleme der Welt.

So kann die Gemeinde in dieser Herausforderung einer nahezu priesterlosen Situation wachsen und ihre Aufgabe, glaubhaft die erfahrene Gegenwart des Auferstandenen menschennah in Wort und Werk zu bezeugen, erfüllen.

Im Gegensatz zur Synagoge war sie missionarisch, das gilt es gerade heute neu zu entwickeln.

Sie trägt damit bei, ein Milieu in der unmittelbaren Lebenswelt der Menschen zu schaffen, das zur Bildung einer christlichen Identität notwendig ist.

Das Milieu der menschennahen Gemeinde sichert in der Kraft des Geistes Gottes vor allem die Kirche der Zukunft und die Zukunft der Kirche.

 

Literatur

Haag, H., Bibellexikon, Zürich² 1982

Hruby, K., Aufsätze zum nachbiblischen Judentum und zum jüdischen Erbe der frühen Kirche, Berlin 1996

Jütte, R., Kustermann, P. (Hg), Jüdische Gemeinden und Organisationsformen von der Antike bis zur Gegenwart, Wien 1996

Kee, H. C. u. a. (Hg), Evolution of the Synagoges, Problems an Progress, Harrisburg 1999

Leuninger, E. Die Entwicklung der Gemeindeleitung, St. Ottilien 1996

LThK, 2. Auflage, verschiedene Artikel

Schrage, W., synagogé, in G. Kittel, Theologisches Wörterbuch zum NT, Bd. 7, 798-839, Stuttgart 1964

Stiegler, St., Die nachexilische JHWH-Gemeinde in Jerusalem, Frankfurt a. Main 1994

Synagoge, Theologische Realencyclopädie, 2001,499-508

Synagogue, Jewish Encyclopedia, New York 1925

Urman, D. u.a. (Hg), Ancient Synagoges, Historical Analysis and Archaeological Discovery, 2 Bde. Leiden 1995