13.
Juli 2008
DER TAGESSPIEGEL
Berlin
Die Dritte Seite
"Pro Asyl"
Europas Gewissen
Als sie anfingen, waren sie ein
versprengtes Häuflein Aufrechter.
Sie fliehen vor Armut und Krieg und suchen
das Glück. Nicht selten sterben die
Flüchtlinge an den EU-Grenzen. Gerade
erst gab es die schlimmsten Unglücke
in diesem Jahr. Wichtigste Stimme der Asylsuchenden
ist "Pro Asyl", ein Netzwerk. Sein
Aufstand bringt die Politik in Bewegung
Von Harald Schumann
Der Gestank ist durchdringend. Abwasser steht in Lachen auf dem Boden, die Betten sind schmutzig. Rund 60 Menschen sind in der dunklen Lagerhalle hinter vergitterten Fenstern inhaftiert und müssen sich eine Toilette teilen. Duschen und Waschbecken sind unbrauchbar, viele haben Hautausschläge. Die Eingesperrten wissen weder, wie lange sie eingesperrt bleiben werden, noch können sie sich mit ihren Aufsehern verständigen. Es handelt sich um eine staatliche Einrichtung. "Aber", sagt Günter Burkhardt, "sie ist eines europäischen Rechtsstaates nicht würdig."
Wenn Burkhardt von seinem jüngsten Besuch im Flüchtlingsgefängnis Mitlini auf der griechischen Insel Lesbos berichtet, dann klingt das zunächst nüchtern wie der Prüfbericht einer Aufsichtsbehörde. Aber da war noch dieses kleine Mädchen. Nur mit Lumpen bekleidet und barfuß kam es den Besuchern entgegen, "nicht mal Schuhe haben sie ihr gegeben". Der schmerzliche Ausdruck auf Burkhardts Gesicht verrät, wie nahe ihm die Lage der Menschen geht, um deren Schicksal er jeden Tag ringt. "Ich musste sofort an meine kleine Tochter denken. Was wäre, wenn wir einmal in diese Lage gerieten?"
Es sind Momente wie diese, mit denen Burkhardt
begründet, warum er seine aufreibende
Arbeit nun schon seit 22 Jahren macht.
"Da gibt es Bilder, die einen nicht
mehr loslassen", sagt er, während
sein Handy und seine Kollegen fortwährend
signalisieren, dass er für solche
Gespräche eigentlich keine Zeit hat.
Denn Burkhardt, 51 Jahre alt und studierter
Mathematiker und Theologe, lenkt eine Organisation,
die europaweit einzigartig ist und stets
mehr Arbeit hat, als sie bewältigen
kann: "Pro Asyl", die "Bundesarbeitsgemeinschaft"
von Aktivisten aus ganz Deutschland, die
sich für Flüchtlinge einsetzen.
Formal ist "Pro Asyl" nur ein
Verein wie viele andere auch. Doch mit
einer Mischung aus Hartnäckigkeit
und Radikalität ist es Burkhardt und
seinen Mitstreitern gelungen, ihr Netzwerk
zur wichtigsten unabhängigen Stimme
für die Rechte all jener zu machen,
die in der „Festung Europa" Zuflucht
suchen. Egal ob in Berlin um das Bleiberecht
für Asylbewerber gestritten wird,
ob in Griechenland Grenzpolizisten Flüchtlinge
auf unbewohnten Inseln aussetzen oder ob
in der spanischen Enklave Melilla in Marokko
afrikanische Migranten im Stacheldraht
des Abwehrzauns verbluten: Stets sind es
Sprecher von "Pro Asyl", die
weit über Deutschland hinaus die Öffentlichkeit
informieren und Europas Politikern und
Bürgern das Wegschauen schwer machen.
Allein in der vergangenen Woche starben
bei den bisher schlimmsten Unglücken
dieses Jahres 33 Afrikaner bei dem Versuch,
die Kanarischen Inseln zu erreichen. Mit
dem Aufruf "Stoppt das Sterben!"
mobilisiert die Organisation nun für
die breit angelegte Rettung solcher Bootsflüchtlinge.
Das Echo ist enorm. Als Erste unterzeichneten
so verschiedene Persönlichkeiten wie
die Schauspielerin Ulrike Folkerts, der
frühere Industriepräsident Olaf
Henkel oder Ex-CDU-Minister Christian Schwarz-
Schilling. Vor allem aber bahnt sich nicht
zuletzt dank dieses öffentlichen Drucks
nun auch eine politische Wende an. Mit
Innenminister Wolfgang Schäuble plädierte
jüngst erstmals ein konservativer
Politiker für die Aufnahme von mehr
Flüchtlingen in Europa.
"Pro Asyl", sagt denn auch Dieter
Wiefelspütz, der führende Innenpolitiker
der SPD-Bundestagsfraktion und als solcher
oft politischer Gegenspieler der Flüchtlingshelfer,
sei "unverzichtbar". Die Mehrheitsgesellschaft
sei gegenüber jenen, die in Europa
Schutz suchen, sehr egoistisch, da
halte die Initiative "kenntnisreich
und professionell dagegen".
Auf derlei öffentliche Anerkennung
wagte das Häuflein Aufrechter, die
das Projekt einst ins Leben riefen, kaum
zu hoffen. Als zu Beginn der 80er Jahre
die Zahl der Asylbewerber in der Bundesrepublik
auf mehr als 100 000 jährlich stieg,
schlug ihnen vielfach Ablehnung entgegen.
Vor welchen Gräueln in Sri Lanka oder
der Türkei die Menschen geflohen waren,
wollte kaum jemand wissen. Politiker sprachen
von "Asylmissbrauch", und Bürgerinitiativen
machten gegen Unterkünfte für
Flüchtlinge mobil. Die wenigen, die
im Auftrag von Kirchen und Wohlfahrtsverbänden
den Asylsuchenden beistanden, sahen sich
auf verlorenem Posten.
"Die öffentliche Stimmung war
schrecklich", erinnert sich der Theologe
Jürgen Micksch, der damals nach 13-jähriger
Arbeit als Ausländerreferent der evangelischen
Kirche die Studienleitung der kirchlichen
Akademie im bayerischen Tutzing übernommen
hatte. "Alle schwiegen zu der Hetze,
es war unerträglich, wir mussten was
tun." Gemeinsam mit dem UN-Flüchtlingshilfswerk
organisierte er eine Tagung, um einen Flüchtlingsrat
zu gründen, in dem sich alle betroffenen
Organisationen zusammenschließen
sollten. Das ging aus formalen Gründen
nicht, weil kein Verband seine Eigenständigkeit
aufgeben konnte. Stattdessen traf sich
im September 1986 in Tutzing ein großer
Kreis von Aktiven, die das Vorhaben als
Personenbündnis starteten. Und dann
erging es Micksch wie so vielen, die etwas
voranbringen wollen. Der ehrenamtliche
und unbezahlte Vorsitz für die neue
Initiative blieb an ihm hängen – bis
heute.
Micksch, ein charmanter Dynamiker mit silbernem
Haarschopf und Bart, dem seine 67 Jahre
kaum anzumerken sind, bekam sofort zu spüren,
wie groß der Bedarf nach einer Stimme
war, die für die Schutzsuchenden spricht.
"Die Medien überfielen mich",
sagt er, tausende von Briefen gingen bei
ihm ein.
Als er des Ansturms nicht mehr Herr wurde, gewann er schließlich Burkhardt als Organisator, der in Frankfurt die Geschäftsstelle aufbaute. Dort gelang es alsbald, einen Förderverein zu etablieren, der mit seinen heute knapp 14 000 Mitgliedern und einem Spendenaufkommen von fast zwei Millionen Euro im Jahr den Aufbau eines schlagkräftigen Netzwerks ermöglichte.
In einer verwinkelten Zimmerflucht im vierten
Stock eines Altbaus im Frankfurter Bahnhofsviertel
beschäftigt "Pro Asyl" inzwischen
20 Mitarbeiter, die von der Recherche im
Ausland über die Lobbyarbeit in den
Parlamenten bis zur Rechtsberatung auf
den verschiedensten Ebenen im Einsatz sind.
Mehr als 300 Gerichtsverfahren jährlich
betreuen sie und führen täglich
an die 30 Beratungsgespräche. Gleichzeitig
koordinieren sie die Arbeit der Flüchtlingsräte
in den Bundesländern, die mit der
Spendenhilfe aus Frankfurt jeweils ein
bis zwei hauptamtliche Mitarbeiter einsetzen
können.
Entscheidenden Anteil an der Entwicklung
hatte nicht zuletzt der Dritte im Bund
der ersten Stunde, der katholische Priester
Herbert Leuninger, den seine Mitstreiter
gern als "genial" oder "legendär"
bezeichnen. Als erster Sprecher verteidigte
er mehr als ein Jahrzehnt lang kompromisslos
wie kein anderer das Recht auf Asyl. Inzwischen
ist Leuninger 75 Jahre alt, aber von seiner
Wortgewalt hat er nichts eingebüßt.
"Den moralischen Zustand eines Gemeinwesen
erkennt man am Umgang mit den Schwächsten,
und das sind eben die Flüchtlinge",
sagt er. Deutschland habe einst "die
richtige Schlussfolgerung aus der Zeit
des Nationalsozialismus gezogen".
Nicht zuletzt die Verweigerung von Asyl
durch viele Länder habe Europas Juden
der Vernichtung preisgegeben. Das im Grundgesetz
verankerte Grundrecht auf Asyl für
politisch Verfolgte sei daher die
richtige Antwort, auch heute noch".
Doch die Mehrheit der Deutschen wollte
das nicht hören. Die von Parteien
und Medien angeheizte Furcht vor "Überfremdung"
war stärker. Als die Regierung Kohl
schließlich gemeinsam mit der SPD
im Dezember 1992 das Asylgrundrecht auf
jene beschränkte, die nicht durch
einen "sicheren Drittstaat" nach
Deutschland gelangten, war dieser sogenannte
Asylkompromiss ädie schlimmste Niederlage
überhaupt", erinnert sich Micksch.
Fortan wurden zigtausende Antragsteller
ohne weitere Prüfung wieder abgeschoben,
und das Asylrecht wurde zum politischen
Randthema. "Kein Wunder", sagt
Micksch, ädie Flüchtlinge erreichen
unser Land ja gar nicht mehr." Tatsächlich
sank die Zahl der Asylanträge von
einst bis zu einer halben Million wie während
der Jugoslawienkriege auf gerade noch knapp
19 000 im vergangenen Jahr
Aber musste die Politik nicht dem Ansturm der Flüchtlinge aus aller Welt etwas entgegensetzen? Hätte es denn eine politische Alternative gegeben?
Beide Fragen beantwortet Micksch mit einem
klaren Ja. Gewiss sei es unvermeidlich,
dass Deutschland viele Flüchtlinge
abweisen müsse. Aber "wir hätten
ein umfassendes System von Beratung und
fairen, schnellen Verfahren einrichten
und den politisch Verfolgten Asyl gewähren
können", erklärt er die
zentrale Forderung seiner Organisation.
Das Land hätte damit zwar weit mehr
Schutzsuchende aufnehmen müssen. "Aber
wir wären der Grundidee treu geblieben,
und wir könnten es uns doch leisten."
Dass es nicht so kam, war für die
Flüchtlingshelfer ein Rückschlag,
aber nicht das Ende. "Die Not der
Flüchtlinge verschwand ja nicht, sie
wurde nur außer Sichtweite gehalten",
konstatiert Geschäftsführer Burkhardt.
Fortan landeten die meisten Schutzsuchenden
in Auffanglagern in den Staaten Ost- und
Südeuropas. So zwang die deutsche
Asylsperre die EU-Staaten, eine gemeinsame
Flüchtlingspolitik zu entwickeln.
Genauso musste "Pro Asyl" sich
europäisieren – lange Jahre mit wenig
Erfolg. So gilt schon seit 2003 die sogenannte
"„Dublin-Verordnung". Sie regelt,
dass Flüchtlinge einen Antrag auf
Asyl nur in dem EU-Staat stellen dürfen,
den sie zuerst erreichen. Die Folgen sind
dramatisch. In Griechenland etwa gewähren
die Behörden selbst jenen keinen Schutz,
die unzweifelhaft vor politischer oder
religiöser Verfolgung geflohen sind.
In der Folge werden zahlreiche Iraker oder
Afghanen, die über Griechenland nach
Deutschland gelangen, sofort in Abschiebehaft
genommen, obwohl sie nach deutschem Recht
als politische Flüchtlinge Anspruch
auf Asyl hätten. Zudem rüstete
die EU ihre Grenztruppen auf und setzte
vorrangig auf militärische Abschreckung.
Mit der Gründung der EU-Grenzschutzbehörde
"Frontex" operieren Europas Grenzpolizisten
seit drei Jahren sogar mit gemeinsamen
Verbänden. Seitdem sind auch Hubschrauber
der Bundespolizei im Mittelmeer und vor
den Kanarischen Inseln im Einsatz.
Mit welchen Methoden auf See operiert wird,
davon erfuhr die Öffentlichkeit lange
wenig. Das änderte sich erst, als
Burkhardt und der Europa-Referent von "Pro
Asyl", Karl Kopp, im vergangenen Jahr
selbst in Griechenland recherchierten.
Mithilfe griechischer Anwälte gelang
es ihnen, mit den Gefangenen in den Lagern
zu sprechen. Was sie zu hören bekamen,
war erschreckend. Viele Flüchtlinge
waren von Grenzern bestohlen und misshandelt
worden. Andere berichteten, die Beamten
hätten sie bei früheren Versuchen
auf unbewohnten Inseln ausgesetzt oder
mit absichtlich leck geschnittenen Schlauchbooten
ausgesetzt. Mehrere Zeugen bestätigten,
dass die Küstenwächter nicht
einmal vor Folter zurückschrecken.
Ein Opfer erzählte, wie die Grenzer
seinen Kopf bis kurz vor dem Ertrinken
in einem Eimer unter Wasser drückten
und ihm mit dem Tod drohten, um Angaben
über seine Helfer zu erpressen.
Die anschließende Pressekonferenz
in Brüssel über Griechenlands
"menschenrechtsfreie Zone" entfachte
europaweit Empörung. Die griechische
Regierung musste sich den Vorwürfen
im Athener Parlament stellen, und die EU-Kommission
leitete ein Verfahren gegen Griechenland
ein. Für die "Pro Asyl"-Streiter
brachte der Skandal in der Ägäis
den Durchbruch. Denn nun steht die ganze
Abschreckungspraxis der Frontex-Truppen
selbst grundsätzlich infrage.
Das musste jüngst auch SPD-Innenpolitiker
Wiefelspütz bei der Jahrestagung der
Hilfsorganisationen in der Friedrichstadtkirche
am Berliner Gendarmenmarkt einräumen.
Dort geißelte er zwar die Zustände
in Griechenland als "Riesensauerei".
Am Abdrängen der Boote und dem Verbringen
in „sichere Häfen" außerhalb
Europas mochte er aber nichts Unrechtes
erkennen. Dem hielt "Pro Asyl"-
Stratege Burkhardt entgegen, dass die Genfer
Flüchtlingskonvention auch auf Schiffen
der EU-Staaten gelte. Diese verbiete ausdrücklich
das "Refoulement": die Abschiebung
von politisch Verfolgten und schutzbedürftigen
Flüchtlingen wie Kindern und schwangeren
Frauen in unsichere Gebiete. Darum, sagte
Burkhardt, müsse immer erst geprüft
werden, wer von den Flüchtlingen
ein Recht auf Schutz in Europa" habe.
Die pauschale Zurückweisung sei "rechtswidrig".
Mangels besserer Argumente versprach Wiefelspütz
daraufhin eine Anhörung zum Thema
im Bundestag. Der "Rechtsrahmen"
für die Frontex-Einsätze müsse
wohl klarer definiert werden, gab er zu.
So deutet vieles darauf hin, dass die beharrliche
Kritik an Europas Abschottungspolitik allmählich
Früchte trägt. Dafür steht
etwa der jüngste Vorstoß von
Innenminister Wolfgang Schäuble. Bisher
verteidigte er eisern die Abschreckung
mit allen Mitteln. Nun schlug er seinen
EU-Kollegen vor, Europa solle "schutzbedürftige
Personen wie Angehörige religiöser
und ethnischer Minderheiten" aus dem
Irak „auf freiwilliger Basis aufnehmen"
und in Europa eine Perspektive bieten".
Käme es zu einem solchen von der UNO
organisierten "Resettlement",
wäre das eine grundsätzliche
Wende. Dazu sind offenbar auch viele Wähler
wieder bereit. Diese Erfahrung machte jedenfalls
der bayerische Flüchtlingsrat. Anlässlich
der Münchner 850-Jahr-Feier forderten
die Aktivisten die Aufnahme von 850 Flüchtlingen
in der Stadt und warben unter dem Motto
„Save me!" (Rettet mich!) um Freiwillige,
die den Flüchtlingen als Paten bei
Behördengängen und Arbeitssuche
zur Seite stehen. "Die Reaktion war
durchweg positiv", berichtet Sprecher
Matthias Weinzierl. Binnen weniger Monate
meldeten sich 867 Freiwillige, und der
Stadtrat unterstützte das Vorhaben
einstimmig. Künftig soll die "Save
me"-Kampagne bundesweit laufen.
All das wird an der Arbeitsüberlastung
der Frankfurter "Pro Asyl"-Arbeiter
allerdings wenig ändern. Als Europa-Referent
Kopp Anfang Juli erneut nach Lesbos reiste,
traf er auf mehr als 100 vorwiegend afghanische
Jugendliche und Kinder, die wider alles
Recht in dem verrotteten Gefängnis
Mitlini festgehalten wurden. Als er deren
Freilassung anmahnte, fand er sich unversehens
in der Verantwortung, eine Busladung Kinder
unterzubringen. Mit Unterstützung
griechischer Helfer brachte er sie schließlich
in ein leer stehendes Krankenhaus, und
nun müssen wir uns auch noch
um ein Kinderheim kümmern." Aber
"dass wir sie frei bekommen haben",
sagt Kopp, sei schon ein gutes Gefühl.
Für solche kleinen Erfolge machen
wir einfach immer weiter."
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