Herbert Leuninger

ARCHIV ASYL 1987

WENN SIE ABGESCHOBEN WERDEN
Bedrohte Asylbewerber zwischen christlichem Gewissen und staatlichem Handeln

Gottesdienst mit Diskussion
am 17.5.1987 in St. Lorenz, Nürnberg
Veranstalter: EVANGELISCHE KOMMENTARE

INHALT
Die Kirchen stehen vor einer großen Heraus- forderung. Sie ist ökumenischer Natur im wahren und tiefen Sinne des Wortes. Wenn die Christen zusammenhalten, ist das vorgesehene Abschiebungskonzept nicht zu verwirklichen.


GOTT, WAS IST DER MENSCH, DASS DU SEINER GEDENKST ?!
(Ps. 8,5)

Im April verschickt die Evangelische Kirche von Berlin-Brandenburg Empfehlungen für Paten und Unterstützer von Flüchtlingen, die abgeschoben werden sollen. Mittlerweile gibt es dort viele solcher Paten, einzelne Personen, 20 Kirchengemeinden und zahlreiche Initiativgruppen. Schützend stellen sie sich vor Menschen, die in Krisen- und Kriegsgebiete zurückgeschickt werden und denen Gefahr für Leib und Leben droht. Es müsse damit gerechnet werden, dass in naher Zukunft nicht nur Flüchtlinge aus dem Libanon, sondern auch aus dem Iran und Sri Lanka betroffen sind, heißt es in dem Papier. Der kirchliche Ausländerbeauftragte weiß mir gegenüber von zwei Abschiebungen zu berichten, von denen dieser Tage eine gerade noch in Frankfurt und die andere in Zürich verhindert werden konnte. Am vorvergangenen Freitag Abend sucht eine Berliner Initiative über mich einen Frankfurter Rechtsanwalt zu erreichen. Es geht um die Abschiebung einer jungen Frau aus Ghana. Sie ist im sechsten Monat schwanger und befindet sich bereits im Frankfurter Polizeigewahrsam.

Was ist geschehen, dass es zu einem solchen Engagement kommen muss, nicht nur in Berlin? Das Ausländergesetz ( §14) schützte bis zum Januar dieses Jahres jeden Ausländer, nicht nur einen Asylbewerber, davor in einen Staat abgeschoben zu werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist.. 1966 hatten die Innenminister beschlossen, abgelehnte Asylbewerber aus Ländern des Warschauer Paktes oder bestimmten Krisengebieten nicht in ihre Heimatländer zurückzuschicken. Aber das gilt jetzt alles nicht mehr. Im letzten Jahr haben die Minister sich erneut geeinigt. Und jetzt soll auch in Krisengebiete abgeschoben werden. Gesetze wurden ebenfalls geändert.

KRISENGEBIETE

Und was ist ein Krisengebiet? Der Bundesgrenzschutz verfügt über eine Definition aus dem Bundesinnenministerium. Er wendet sie an, um Flüchtlinge bereits an der Grenze zurückweisen zu können; in den ersten neun Monaten des vergangenen Jahres waren es allein über 500, darunter 300 aus dem Libanon. Also, was ist ein Krisengebiet? Ein Krisengebiet ist das Gebiet eines Staates, wenn und solange im gesamten Staatsgebiet Krieg, Bürgerkrieg oder eine bürgerkriegsähnliche Situation herrschen. Eine klare Umschreibung. Also in ein solches Gebiet wird ohne weiteres zurückgeschickt. Von einer Abschiebung in ein Krisengebiet kann nur unter bestimmten Umständen abgesehen werden und zwar solange dem Ausländer dort für sein Leben oder seine Freiheit Gefahren drohen würden; es genügen aber nicht irgendwelche Gefahren, sondern nur solche, die wesentlich über das Maß dessen hinausgehen, was in dem betreffenden Staat allgemein oder von einer bestimmten Volksgruppe zu erdulden ist.

Ich wiederhole diesen Satz noch einmal, um ihn dann zu erklären. Wenn die Palästinenser im Libanon in ihren Lagern ausgehungert werden, ist das ein Schicksal, das eine Volksgruppe allgemein zu erdulden hat. Für einen Palästinenser aus dem Libanon müsste eine noch wesentlich direktere und massivere Form der Tötung drohen, um ihn vor einer Ausweisung zu retten. Oder noch krasser, ein Land hätte nach diesen Grundsätzen jüdische Flüchtlinge in den sicheren Tod nach Hitler-Deutschland zurückschicken können; denn das dann unweigerlich drohende KZ wäre nicht wesentlich über das hinausgegangen, was dem jüdischen Volk im Holocaust insgesamt widerfuhr. Ich muss ihnen die Perversion staatlichen Handelns in der Bundesrepublik so verdeutlichen, viel anders ist Betroffenheit in der Öffentlichkeit und manchmal auch unter Christen fast nicht mehr herstellbar.

Auf diesem Hintergrund muss befürchtet werden, dass Abschiebungen von Flüchtlingen aus der Bundesrepublik oder ihre Zurückweisung an der Grenze mit plagenden Kindern, schreienden Müttern und sich verzweifelt wehrenden Männern zum alltäglichen Handeln des Staates werden.

DAS NADELÖHR

Immer mehr Flüchtlinge werden von diesem Schicksal bedroht. Nicht zuletzt deswegen, weil immer mehr Asylbewerber abgelehnt werden. Die sogenannte Anerkennungsquote sinkt. Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge passt sich dem politischen Trend an, viele Flüchtlinge nicht mehr als solche zu betrachten, sondern ihnen andere Fluchtgründe zu unterstellen, vornehmlich wirtschaftliche. Immer weniger Flüchtlingen gelingt es, vor den strenger und strenger urteilenden Beamten glaubhaft zu machen, sie seien politisch, d. h. von Staats wegen verfolgt.

Und die Gerichte? Sie beteiligen sich an der Aushöhlung des Grundgesetzes, in dem sie definieren und definieren, wer denn wirklich ein Flüchtling ist. Schließlich bleibt kaum noch einer übrig; nicht einmal der, der in einem Gefängnis gefoltert wird. Nehmen wir ein Beispiel. Ein Oberlandesgericht hat darüber zu befinden, ob ein Tamile als Flüchtlinge anerkannt wird oder nicht. Das Gericht entscheidet, er kann nicht anerkannt werden. Es ist zwar nicht auszuschließen, dass der Betreffende, wenn er in die Heimat zurück muss, dort von der Polizei gefoltert wird. Aber die drohende Folter begründet keinen Anspruch auf Asyl. In Sri Lanka herrscht ja nur Bürgerkrieg. Danach richtet sich der Einsatz der Polizei gegen die Tamilen, weil sie Separatisten sind und nicht wegen ihrer Rasse! Folterungen der Polizei im Bürgerkrieg machen in dieser Sicht einen Menschen, der ihnen zu entgehen sucht, noch lange nicht zum Flüchtling im Sinne des Grundgesetzes. 'Morituri te salutant', Die Todgeweihten lassen grüßen, schrieb ein Rechtsanwalt auf die mir übersandte Kopie des Urteils. Bekanntlich war dies der Abschiedsgruß der Gladiatoren an den römischen Kaiser.

Asylpolitisch gesehen läuft das ab, was sich nach einer wissenschaftlichen Studie über 'Die Flüchtlingsfrage als Weltordnungsproblem' historisch immer wieder bestätigt: „Definition und Abgrenzung des Flüchtlingsbegriffs entsprechen der jeweiligen Interessenlage" (S. 17). Die Betroffenen fordern einen weitgefassten, die Fluchtaufnahmeländer einen je nach Umständen engen bis sehr engen. In der Bundesrepublik setzt sich ein ganz enger durch, der dadurch begünstigt wird, dass das Grundgesetz nur dem politisch Verfolgten, also den vor staatlichem Zugriff Flüchtenden einen Anspruch auf Asyl gewährt. Diese Begrenzung erlaubt es derzeit, auf dem Wege dessen, was als staatliche Verfolgung definiert oder besser dekretiert wird, nur noch ganz wenige als Flüchtlinge anzuerkennen. Dies ist der wesensgemäße Nachteil der grundgesetzlichen Absicherung, weil er andere legitime Fluchtgründe ausklammert. D. h. die humanitäre Verpflichtung des Grundgesetzes, Menschen, die zu uns geflüchtet sind, auch dann aufzunehmen, wenn sie das Kriterium politischer Flucht nicht erfüllen, bleibt praktisch unberücksichtigt.

Unser Grundgesetz wird zum Nadelöhr für Flüchtlinge. Nur wenige gelangen überhaupt noch hindurch. In der engen Auslegung des Bundesamtes und in der speziellen Art und Weise des Bundesinnenministeriums mit Zahlen umzugehen, sind es in den ersten vier Monaten dieses Jahres gerade noch 1O%, die als Flüchtlinge anerkannt werden. Im letzten Jahr waren es 15 und im Jahr 1985 noch 30%. Man könnte sagen, die Quote der Anerkennungen tendiert gegen Null, auch eine Null- Lösung, aber eine denkbar schlechte.

10% Anerkennungen von Asylbewerbern als Flüchtlinge heißt in der simplen Folgerichtigkeit heutiger Politik: 90% sind Wirtschaftsflüchtlinge, im Stammtischdeutsch von Normalbürgern und hohen Politikern: sie sind Asylschnorrer. Und die sollten einen humanitären Anspruch haben, in der Bundesrepublik zu bleiben? Raus damit! Es könnten sonst Millionen, ja Milliarden nachkommen!

Artikel 16 Grundgesetz ist eine notwendige Konsequenz aus unserer schlimmen Geschichte. Er setzt einen Standard, hinter den wir nicht mehr zurückgehen dürfen. Wir müssen uns gegen seine Aushöhlung wenden. Aber das allein genügt nicht. Artikel 16 schützt nicht alle Menschen, die aus schwerwiegenden und berechtigten Gründen zu uns flüchten. Wir brauchen einen erweiterten Begriff von dem, was wir unter einem Flüchtling verstehen. Das Europäische Parlament fordert in seiner Entschließung vom März einen neuen Flüchtlingsbegriff, der den gewandelten Verhältnissen in der Welt entspricht. Es gibt einen solchen bereits seit 1969 und zwar den der Organisation für afrikanische Einheit (OAU). Danach soll jeder als Flüchtling gelten, der wegen einer Aggression von außen, wegen Besetzung, Fremdherrschaft oder aufgrund von Ereignissen, welche die öffentliche Ordnung in einem Teil des Landes oder dem gesamten Lande ernsthaft stören, gezwungen ist, seine Heimat zu verlassen.

DIE ÖKUMENISCHE HERAUSFORDERUNG

  • Wir müssen das Grundgesetz nach Buchstabe und Geist verteidigen!
  • Wir sollen eine realistische und daher weitgefasste Vorstellung vom heutigen Flüchtling durchsetzen!
  • Wir wollen alle zu Gebote stehenden rechtlichen Mittel ausschöpfen, um das Lebensrecht aller Flüchtlinge bei uns zu verteidigen!
  • Wenn dies nicht ausreicht, brauchen wir nur auf unser Gewissen zu hören.

Wir stehen vor einer großen Herausforderung. Sie ist ökumenischer Natur im wahren und tiefen Sinne des Wortes. Wenn wir zusammenhalten, ist ein Abschiebungskonzept nicht zu verwirklichen.

Ein katholischer Christ rief mich kürzlich aus Hildesheim an. Er wollte erfahren haben, dass die niedersächsische Landesregierung die Abschiebung von Flüchtlingen aus den Libanon vorbereitet. Was er in dieser Situation getan hat? Er hat vier Pfarrer gefunden, die bereit sind, Flüchtlinge zu verstecken; evangelische Pfarrer, wie er eigens bemerkt.

GOTT, WAS IST DER MENSCH, DASS DU SEINER GEDENKST ?!