Herbert Leuninger ARCHIV BIOGRAFIE
1988

1988
sozial extra
Magazin für soziale Arbeit
Andreas Werner
Porträt

An der Wand hängt ein schlichtes Kreuz, daneben ein Bild von Martin Niemöller (verwechselt mit Franz Leuninger, hingerichteter Hitlergegner). Vom Deckenlicht baumelt einsam eine Marionette. Die Regale sind voll beladen mit Büchern. Zwei liegen vor uns auf dem Tisch. Eines heißt "Das Prinzip Verantwortung". Der Titel steht gleichsam für das Motto, das Herbert Leuninger seinem Leben zugeschrieben hat. Der schmächtige Mann, dessen Kopf keine Ruhe mehr findet, fühlt sich seit langem schon dem "Prinzip Verantwortung" mit Blick auf jene verpflichtet, die in Zeiten zunehmender Ausländerfeindlichkeit besonders auf Hilfe angewiesen sind. Seit Jahren gilt sein ungebrochenes Engagement den zahllosen ausländischen Flüchtlingen, die in unserem Land nach Asyl suchen.

Als die CDU kürzlich im hessischen Kommunalwahlkampf mit Parolen auf Stimmenfang ging, die scharfsinnige Beobachter der politischen Landschaft bislang eher der extremen Rechten als dem konservativen Lager zuordneten, standen Leuninger in Gesprächen mit Journalisten die Tränen in den Augen. Vor Wut. Seine schmalen , fast filigranen Hände hauten mit Wucht auf den Tisch, daß die Kaffeetassen wackelten. Er könne es einfach nicht begreifen, schimpfte Herbert Leuninger ebenso laut wie verzweifelt. Wenige Jahrzehnte nach dem Holocaust breche sich schon wieder jener schamlose Geist in bürgerlichen Kreisen Bahn, der einst Millionen Menschen ins Unglück stürzte. Dazu kann der 56Jährige nicht schweigen, dazu mochte er noch nie schweigen. Nicht als einfacher Pfarrer, und nicht als der eifrige, unentwegte Kämpfer für die Rechte der Flüchtlinge aus aller Welt und Sprecher von PRO ASYL, der Leuninger seit über zwei Jahren ist. Die bundesweite Organisation war 1986 gegründet worden, weil die Menschen, die vor Verfolgung, Folter und Tod aus ihrer Heimat fliehen, dringend Unterstützung brauchten. Insbesondere erforderlich schien Hilfe, die "weniger bürokratisch und schwerfällig" funktioniert, unterstreicht "Bruder Herbert" rückblickend. Unüberhörbar klingt die Kritik an den Institutionen durch, die sich allenfalls nebenher der Asylproblematik annehmen.

Das Telefon klingelt. Einem Sikh droht die Abschiebung nach Indien. "Das muß verhindert werden", brüllt Leuninger resolut in den Apparat.

"Wo war ich?" "Bei der Schwerfälligkeit der etablierten Einrichtungen." "Ach ja." Der Faden ist schnell wieder gefunden. Kein Wunder, denn der Mann, der vor mir sitzt und jederzeit bereit ist, sein letztes Hemd für die Flüchtlinge aus aller Welt zu opfern, weiß, wovon er spricht.

Als der Theologe, der in Köln geboren wurde, in Bonn das Abitur machte und in Frankfurt sein Studium abschloß, vor 17 Jahren als "Referent für Katholiken und Mitbürger anderer Muttersprache" in den Dienst des Bistums Limburg trat, spürte er sehr bald, daß er damit durchaus "eine sehr politische Aufgabe" übernommen hatte. Die "Anwaltsfunktion" der Kirche war für ihn von Beginn an mit dem drängenden Auftrag verbunden, "schrittweise" die "weitgehende" Gleichberechtigung der ausländischen Mitmenschen zu verwirklichen". Dies war streng genommen kein "parteipolitisches Ziel", wie er betont. Doch allemal ein "politisches Konzept".

Leuninger versucht nicht zu verniedlichen, wenn er sich der teils erheblichen Schwierigkeiten erinnert, diese politische Arbeit mit jener im Zeichen der indirekten Herrschaft Gottes unter einen Hut zu bringen. Vier Jahre ist es her, als "Bruder Herbert" eben wegen dieser Schwierigkeiten seinen Bischof darum bat, ihn künftig nurmehr als Teilzeit-"Jünger" zu betrachten. "Natürlich mit 50 Prozent weniger Gehalt". Die andere Hälfte seiner Arbeitskraft wollte er - überzeugt davon, auf dem richtigen Weg zu sein - von da an ausschließlich in seine Aktivitäten für die abertausenden ausländischen Flüchtlinge stecken ("Im übrigen ein Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit").

Der Name Leuningers wurde über dessen direkten Wirkungskreis hinaus Programm. Es war die Zeit verstärkter Auseinandersetzungen mit Walter Wallmanns Ausländerpolitik, in die hinein Leuninger durch seinen neugewonnenen Freiraum mit verstärkter Kraft platzte. Es war die Zeit des Kommunalwahlkampfes 1985, der bereits von ähnlichen , aus Ressentiments gespeisten Parolen überschattet wurde wie der jüngste Run der Parteien auf die Gemeinden, Städte und Kreise, auf die Stimmen aus dem Volk. Da kochte Leuningers Seele über. Da brodelte es in ihm. "Aber das Feuer hat nicht nur die Union geschürt."

Unruhig war Leuninger, wenn er ehrlich ist, schon sehr viel früher geworden: 1981. Da war es nicht die CDU, die sein Unbehagen schürte, sondern die sozialliberale Bundeskoalition unter Schmidt/Genscher. "Das entscheidende Datum war der 2. Dezember", erzählt Leuninger, der Beschluß zur "Steuerung des Familiennachzugs". Den Ländern war empfohlen worden, den Familiennachzug einzuschränken. Mit diesem Termin stand für den Mann mit erstem Wohnsitz in Hofheim, dem zweiten in den Herzen der abertausenden Asylbewerber fest, daß es nicht mehr darum ging, Verbesserungen für die Flüchtlinge aus aller Welt zu erreichen, sondern die drohenden "Verschlechterungen" ihrer Lage hierzulande abzuwehren.

Leuninger in der Rückblende: "Wir waren damals alle wie gelähmt. Was hatten wir falsch gemacht?" Trotz aller Anstrengungen, die Bevölkerung für die Belange der ausländischen Flüchtlinge zu interessieren, deren Situation bewußt zu machen und den Asylsuchenden so die Unterstützung ihrer Umgebung zu sichern, mußten Leute wie Leuninger feststellen, daß sich die Mentalität in diesem unserem Lande nicht geändert hatte. Alte Vorbehalte waren wieder wachgerüttelt und an die Oberfläche gespült worden. Haß gegen die Türken blühte auf. "Auf einmal hockten wir, die wir glaubten, bereits eine Lanze für die Flüchtlinge gebrochen zu haben und auf Verständnis gesetzt hatten, wieder hochdroben im Elfenbeinturm."

Der Schock saß tief. Jemanden wie Leuninger konnte er freilich nicht lähmen. Er suchte nach einem neuen Ansatz, sich für die Belange der Asylsuchenden einzusetzen, und fand ihn in der Friedensbewegung. Herbert Leuninger betrachtete die Bewegung, die in erster Linie der geplanten Nachrüstung an den stählernen Kragen wollte, als ein "globales Aktionsfeld", auf dem auch für die Rechte der Asylsuchenden gerungen werden mußte. Aus der Krise, in der sich Leuninger wähnte, wuchs der Entschluß, sich eben jener Friedensbewegung anzuschließen. Der Theologe knüpfte Kontakt zu einem Teil der Bewegung, zu "Pax Christi" in seiner Heimatstadt am Rande des Taunus. Die örtliche Gruppierung von "Pax Christi" hatte sich schon vor Leuningers Eintritt auf die "Partnerschaft" mit Asylsuchenden konzentriert. Denn nur wenige Kilometer entfernt, in der Stadt Schwalbach, liegt die Hessische Gemeinschaftsunterkunft für ausländische Flüchtlinge (HGU), das zentrale Sammellager für all jene Flüchtlinge, die auf dem Rhein-Main-Flughafen landen und Opfer erster nervenaufreibender Formalitäten im Zusammenhang mit ihrem sich teils über Jahre hinziehenden Asylverfahren werden.

"Pax Christi", das war für Leuninger eine Art "Basisbewegung" vor Ort. Was im ersten Anlauf nicht klappte, weil beim Bistum Limburg bis dahin die Ansicht herrschte, "entweder Freiheit oder Festanstellung", mündete endlich in eine doch merklich erfolgreiche Arbeit zum Nutzen jener, denen Leuninger unbedingt helfen wollte.

Leuninger, der den Bischof eben vor vier Jahren endlich davon überzeugen konnte, daß ein "Teilzeit-Jobber" dem Herrn nicht in den Rücken fallen würde, praktizierte effektive Solidarität. Als beispielsweise Asylsuchende noch unter fortschrittlichem Hessenregiment über Wochen wegen der Enge in der Schwalbacher Sammelunterkunft in Zelten hausen und unter dünnen Planen ihrem Schicksal entgegen fristen sollten, trat Leuninger in den Hungerstreik. Der sozialdemokratische Sozialminister Claus, zunächst unnachgiebig, mußte einlenken. Die Zelte wurden abgebrochen. Die Asylbewerber erhielten akzeptablere Dächer über ihren Köpfen.

Die Gruppe "Pro Asyl", der Leuninger seit drei Jahren als Sprachrohr dient, bedeutete die endgültige Entscheidung des Pfarrers, einen geraumen Teil seines Lebens auf ausgesprochen "politischer Ebene" zu verbringen. Vor Gründung der Organisation waren zahlreiche Vorgespräche geführt worden. Auch mit dem Hohen Flüchtlingskommissar in Bonn. "Pro Asyl" stellte einen inzwischen als gelungen zu betrachtenden Versuch dar, eine "größere Flexibilität" in der politischen Arbeit für die Asylsuchenden zu gewinnen. Experten aus den Kirchen, den Gewerkschaften und Menschenrechtsinstitutionen bildeten in "Pro Asyl" einen eigens auf Asylangelegenheiten ausgerichteten "Anlaufpunkt" für die Solidaritätsbewegung.

"Pro Asyl", sagt Leuninger, sei in der Lage, "sehr schnell", eben viel schneller als Einrichtungen, die sich auch noch mit anderen Fragen zu beschäftigen haben, auf die Anforderungen ausländischer Flüchtlinge zu reagieren. Herbert Leuninger, der von einem zwischenzeitlichen Pessimismus zu einem "ganz scharfen Kritiker der bestehenden politisch-gesellschaftlichen Verhältnisse" wuchs und dem "Utopien nie verloren gegangen" sind, ist beileibe kein Träumer auf Erden. Bei allem "seelischen Druck" und "schlechtem Schlaf", den er angesichts der herrschenden Ausländer- und Asylpolitik auf sich lasten fühlt, zeigt er sich den Anforderungen der Gegenwart durchaus gewachsen.

Der Priester, der aus einer sozial-katholisch beeinflußten Familie stammt, weiß, daß der Zeiger rennt. Mit modernsten Medien wird er seinen Aufgaben gerecht, weshalb sein Zimmer von allerlei technischen Raffinessen geschmückt wird. Er will seine politische Arbeit, auch wenn sie in dieser Zeit auch noch so schwer scheint, nie und nimmer aufgeben. und sie auf dem Gegner gewachsene Füße stellen. Bisher habe er alle Mittel "ausgeschöpft", sagt der Mann, dessen Energie nicht zu brechen ist. Und dies soll auch "so bleiben".

Leuninger glaubt langfristig an die "Humanität der Gesellschaft". "Die enormen Spannungen", die er täglich zwischen Wunsch und Realität aushalten muß, empfindet er als "Dynamik", die ihn vielmehr antreibt, als daß sie ihn in die Resignation triebe.