Herbert Leuninger ARCHIV ASYL
1989

4. Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft PRO ASYL
am 1. und 2. Dezember 1989 in Stuttgart

DIE ARBEIT VON PRO ASYL
Bilanz und Perspektiven

INHALT


Tag des Flüchtlings 1989

Tag des Flüchtlings steht für PRO ASYL im Mittelpunkt der Planungen und Aktivitäten. Zum 4.Mal begangen, ist er eine Art Selbstläufer geworden, d.h. er wird in der Öffentlichkeit und von den Asylinitiativen vor Ort wie eine vertraute, selbstverständliche Einrichtung betrachtet.

In Vorbereitung auf den diesjährigen Tag des Flüchtlings wurde kurz vor den Verfassungsfeierlichkeiten im. Mai der Aufruf "Schutz für Flüchtlinge - 40 Jahre Grundgesetz" veröffentlicht, Erstunterzeichner waren über 30 Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens von Bednarz bis Walser. Organisatorisch getragen wurde er außer von PRO ASYL von den regionalen Flüchtlingsräten, Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Berlin und Bremen, sowie von terres des hommes und dem Forum WIR.

Wir hatten uns mit Hilfe der Medien eine große Resonanz versprochen, die politisch bedeutsam gewesen wäre, wenn wir wenigstens 200.000 Unterschriften erhalten hätten. Es waren aber schließlich gerade 10.000. Dafür haben wir keine Erklärung. Es könnte daran gelegen haben, daß diese Aktion bei den sie tragenden Organisationen wegen der sonstigen Aktivitäten nicht genügend unterstützt wurde; es läßt sich aber auch nicht ausschließen, daß der Teil in der Bevölkerung, der den Flüchtlingen wirklich Sympathie entgegenbringt, wesentlich kleiner ist, als wir bisher angenommen haben. Wenn dies der Fall wäre, müßten wir sehr darüber nachdenken, wie wir einen größeren Rückhalt in der aufgeschlossenen Bevölkerung erhalten. Die klassischen und gewohnten Formen der Mobilisierung reichen auf diesem Sektor offenbar nicht aus.

Die Kirchen haben in ihrem Aufruf zur Woche der ausländischen. Mitbürger die Flüchtlingsthematik in den Vordergrund gestellt. Politisch bedeutsam waren die Forderungen, Flüchtlinge nicht in Kriegs- und Krisengebiete abzuschieben, sie nicht restriktiven Lebensbedingungen zu unterwerfen und sie nicht zum Instrument der Abschreckung für andere Flüchtlinge zu machen. Dieser Aufruf wurde in ca. 60 Zeitungen aufgegriffen.

Für Veranstaltungen zur Ausländerwoche veröffentlichten der DGB und der "Ökumenische Vorbereitungsausschuß für die Woche der ausländischen Mitbürger" Thesen zur Ausländerwoche: "Die Würde des Menschen ist unantastbar". Einige der Thesen hatten einen direkten Bezug zur Flüchtlingsarbeit. Es ist von großer politischer Bedeutung, daß sich die Gewerkschaften so deutlich in der Flüchtlingsarbeit einsetzen. Im März wurde unter gleicher gemeinsamer Verantwortung ein Faltblatt zum Thema "Die Würde des Menschen ist unantastbar Nationalismus und Rassismus überwinden", herausgegeben, das auch auf die Flüchtlingsthematik einging.

Zum Tag des Flüchtlings selbst lagen für die Berichterstattung auf Bundesebene Presseerklärungen vom UNHCR Bonn. von ai, Bonn, vom DGB, von der IG Metall, vom Ökumenischen Vorbereitungsausschuß und von PRO ASYL vor. Was die Berichterstattung selbst anging, war der Tag des Flüchtlings ein Flop. in "hervorragendem Timing" stellte Bundesinnenminister. Schäuble am Tag zuvor seinen neuen Entwurf zum Ausländergesetz vor. Außerdem war an diesem Wochenende die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit fast völlig von den DDR-Flüchtlingen in Anspruch genommen, die über Prag in die Bundesrepublik kamen. In den zwei Wochen nach dem Tag des Flüchtlings meldeten sich aber allein 7 verschiedene Fernsehsender- bzw. Fernsehredaktionen bei PRO ASYL, weil sie das Asylthema in der einen oder anderen Form aufgreifen wollten. Überhaupt läßt sich feststellen, daß PRO ASYL von den Redaktionen als für Asylfragen kompetente Stelle angenommen ist. Die damit verbundenen Erwartungen an das Vorliegen von Informationen und aktuellen politischen Stellungnahmen stellen an uns letzte Anforderungen.

Trotz des geringen Medienechos am Tag des Flüchtlings selbst betrachten wir den diesjährigen Tag des Flüchtlings keineswegs als mißlungen. Was uns an regionalen und lokalen Berichten und Informationen vorliegt, läßt darauf schließen, daß der Tag in seiner spezifischen Bedeutung sehr gut genutzt wurde. Die Auflage des Materialheftes von 33.000 Exemplaren wurde fast restlos verteilt. Es mußten noch 5.000 Plakate nachgedruckt werden. Das Flugblatt "Europa Hort der Zuflucht oder Festung" erschien in einer Gesamtauflage von 50.000 Stück. Der Tag des Flüchtlings, so könnte man sagen, ist ein Angebot, das vielfältig und schöpferisch angenommen. wird, um zu informieren, zu animieren, um Verständnis zu wecken und politischen Druck auszuüben. Ich glaube, daß er für die Bestärkung von einzelnen und Gruppen und zur gegenseitigen Vernetzung einen unerläßlichen Beitrag leistet,

Die Flüchtlingsräte

Die tragenden Elemente einer Vernetzung in der Asylarbeit sind die regionalen Flüchtlingsräte. Ihre Arbeit hat sich im letzten Jahr deutlich verfestigt Für PRO ASYL ist die Zusammenarbeit mit den Flüchtlingsraten ein wesentlicher und notwendiger Bestandteil. Nur mit den Flüchtlingsräten zusammen kann PRO ASYL seine Funktion erfüllen, öffentliches Sprachrohr der Asylarbeit auf Bundesebene zu sein, Informationen zu erhalten und zu verteilen, Aktionen mitzutragen, anzuregen oder zu koordinieren.

Berlin

Die Arbeit des Flüchtlingsrates Berlin ist in der letzten Zeit vor allem durch die Mitarbeit beim Zustandekommen der Weisung des Berliner Innensenators vom 20.6.1989 bestimmt gewesen. Damit wurde de-facto-Flüchtlingen ein sicherer Aufenthaltsstatus gegeben: Wenn es im Nachhinein auch noch große politische Turbulenzen um diese Weisung. gegeben hat, und entscheidende Rückzieher gemacht wurden, mindert dies nicht das Verdienst des Flüchtlingsrates, dessen hohe Sensibilität und politische Kraft gerade an dieser Stelle deutlich geworden ist. Was in Berlin erarbeitet wurde, sollte eigentlich die Grundlage eines neuen Ausländergesetzes sein.

Rheinland-Pfalz

Im Arbeitskreis Asyl Rheinland-Pfalz treffen sich Mitarbeiter/innen von Initiativgruppen, Menschenrechtsorganisationen, Wohlfahrtsverbänden und Kirchen. Fünfmal im Jahr findet ein Treffen statt; die Zahl der Gruppen beträgt 40-50. Zwischen den Treffen vertritt die Koordinierungsgruppe den AK in der Öffentlichkeit und verbreitet aktuelle Informationen über einen Info-Dienst,

Seit einer Anhörung zur Lage der Flüchtlinge in Rheinland-Pfalz im Innenausschuß des Landtags werden regelmäßig. Gespräche mit Mitgliedern der einzelnen Fraktionen geführt. Sie betreffen Abschiebungen, de-facto-Flüchtlinge und die restriktive Asylpraxis. Derzeit ist der AK mit dem beschleunigten Asylverfahren befasst.

Die Arbeit des AK hat sich in den vergangenen drei Jahren gut entwickelt. Zunehmend, gelingt es auch, auf Landesebene Öffentlichkeitsarbeit zu machen,

Nordrhein-Westfalen

Der Flüchtlingsrat NRW arbeitet mit den, Flüchtlingsräten der einzelnen Städte zusammen und verstärkt deren Öffentlichkeitsarbeit Die Aufgaben sind sehr unterschiedlich, Sie sind davon geprägt, daß NRW für Flüchtlinge aus Bayern, vielleicht auch aus Baden-Württemberg eine Art neues Asylland geworden ist. Dagegen wehren sich die Städte und das Land. Eine besondere Aufgabe stellte sich mit der Situation und Behandlung der Roma, die am 14:11. in Duisburg, Düsseldorf, Essen, Oberhausen und Mönchengladbach vor den Rathäusern für ein Bleiberecht demonstriert haben, des weiteren mit der Frage der Sozialhilfe für Asylbewerber, die nicht NRW zugewiesen waren, mit dem Aufenthaltsstatus für Yeziden und Christen aus der Türkei. PRO ASYL wird für einzelne Aktionen um Solidarität ersucht. NRW muß sich auch mit den Auswirkungen der Verkürzung und Zentralisierung der Asylverfahren befassen, Der Flüchtlingsrat NRW und die einzelnen Flüchtlingsräte richten ihre Aktivitäten sehr stark auf die Regierung und den Landtag aus.

Baden-Württemberg

Im September 1988 haben sich rund 200 Initiativen zum AK Asyl Baden-Württemberg e.V. zusammengeschlossen. In Stuttgart wurde ein Büro errichtet, das Informationen sammelt und zur Verfügung stellt. Das Plenum des AK hat einen 10köpfigen Vorstand bzw. Sprecherrat gewählt. Der AK versucht durch Kontakte mit den Verantwortlichen in den Kommunen und im Land auf die Belange der ausländischen Flüchtlinge aufmerksam zu, machen.

Die bisher spektakulärste Aktion war die erfolgreiche Kampagne gegen die versuchten Abschiebungen von libanesischen. Flüchtlingen im November 1988. Ein besonderes Augenmerk hat der AK auf die beiden zentralen Abschiebestellen in Karlsruhe und Stuttgart gerichtet, Der AK möchte überhaupt in der Öffentlichkeit Gegenpositionen zu den regierungsamtlichen Verlautbarungen beziehen und zu einer differenzierten Einschätzung der Asylfrage beitragen. Die Öffentlichkeit nimmt immer mehr Notiz von der Arbeit des AK.

Die Arbeit des AK und seiner örtlichen Gruppen findet in enger Zusammenarbeit mit den Hauptamtlichen der Wohlfahrtsverbände statt. Professionelle und ehrenamtliche Tätigkeit müssen und können sich ergänzen. Ehrenamtliche Tätigkeit ist in ihren kritischen Stellungnahmen freier.

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des AK gehen von der Betroffenheit über das Schicksal von Flüchtlingen aus und lassen sich in ihren Stellungnahmen und Aktionen davon bestimmen. Der Flüchtling soll spüren, daß er trotz der allgemeinen Ausländerfeindlichkeit von einer qualifizierten Minderheit unterstützt wird.

Schäubles Ausländergesetz

Schäuble war es bei der Vorstellung des neuen Entwurfes seines Ausländergesetzes gelungen, der Öffentlichkeit seine Eckwerte als positive Substanz des Gesetzes darzustellen. Dieses positive, auch mit seiner Person verknüpfte Image ließ befürchten, daß das Gesetz im Eilverfahren und mit dem von Schäuble angestrebten breiten gesellschaftlichen Konsens durchgesetzt werden würde. Für PRO ASYL war es daher von größter .Bedeutung, daß es über die wahre Konzeption und über wesentliche Punkte wieder eine ähnlich öffentliche Diskussion geben müßte wie über den Zimmermann-Entwurf. Dem sollte eine Pressekonferenz vom 10. Oktober gelten, die die Problematik aus dem Blickwinkel des Asylrechts aufzurollen versuchte.

Größte Bedeutung mußte der Anhörung der Verbände beim BMI am 20.10. beigemessen werden, deren Ergebnisse aber nicht veröffentlicht wurden, Nach Informationen die PRO ASYL von Teilnehmern des Hearing im BMI vorlagen, war - bis auf die Arbeitgeberseite - die Kritik einhellig und trotz der Würdigung gewisser Verbesserungen scharf. Damit war bereits in der ersten Runde die angestrebte breite Übereinstimmung gescheitert.

PRO ASYL hat sich der Beurteilung des Vertreters des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen in Bonn (UNHCR) angeschlossen. Dieser wirft dem Gesetzesentwurf nicht nur. die Mißachtung der Genfer Flüchtlingskonvention vor, sondern auch rechtsstaatliche Verstöße, unzumutbare Härten und das Zurückbleiben hinter völkerrechtlichen Mindeststandards. Zentrale Forderungen des UNHCR sind unberücksichtigt geblieben

Nach Einschätzung von PRO ASYL müßte die bei der Anhörung vorgebrachte Kritik ausreichen, um auch diesen Entwurf vom Tisch zu fegen. Dies wurde besonders deutlich bei der öffentlichen Anhörung. der Grünen im Bundestag, bei der neben. Kirchen, Gewerkschaften und Wohlfahrtsorganisationen auch terre des hommes, die IAF und PRO ASYL eingeladen waren. In dieser Ergänzung und Verstärkung kamen alle Einwände gegen das Ausländergesetz auf den Tisch. Die totale Übereinstimmung ließ nur noch Unterschiede in Nuancen erkennen, Es kam erstmals öffentlich und mit aller Fachkompetenz zum Ausdruck, daß die Organisationen und Verbände, die von ihrer Aufgabe her auf der Seite der Flüchtlinge stehen, ihren Part in der schwierigen Auseinandersetzung in überzeugender Weise übernommen hatten. Dies war so nicht vorauszusehen, da Schäuble mit seiner ganz anders gearteten Persönlichkeit gerade auch in den Kirchen die Hoffnung auf eine bessere Ausländer- und Asylpolitik geweckt hatte. Hinter dieser Gemeinsamkeit stehen indes langjährige Erfahrungen der Zusammenarbeit, die durch bestimmte Personen in den Organisationen und ein großes gegenseitiges Vertrauen bestimmt sind.

Die Position der Grünen ergänzt auf der politischen Ebene die Ablehnung dieses Gesetzesentwurfes. Von besonderem Gewicht mußte aber die Position der SPD sein, und zwar deswegen, weil Schäuble einen breiten Konsens vor allem auch im Bundestag anstrebte. Einen Tag nach der Anhörung der Grünen legte die SPD-Bundestagsfraktion einen eigenen. Gesetzesentwurf eines Bundesausländergesetzes vor. Er kann pauschal als die bessere Grundlage für ein neues Ausländergesetz angesehen werden.

Besondere Bedeutung hat für PRO ASYL die Absicht der SPD, Flüchtlingen, die aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen nicht ausreisen müssen, einen gesicherten Aufenthaltsstatus einzuräumen,

  • die Visa-Bestimmungen nicht zu verschärfen,
  • den Ausweisungsschutz zu verbessern und
  • die politische Betätigung von Ausländern an den Rechten für Deutsche auszurichten.

Schäubles Abwehrgesetz läßt sich wohl kaum mit dem SPD-Entwurf harmonisieren. Da dürften auch die in Schäubles Schreibstube eingearbeiteten über 300 Veränderungen kaum etwas ändern. Dennoch ist die SPD in Sachen AusIändergesetz überraschend moderat mit Schäuble umgegangen. Das hängt damit zusammen, daß sie, so der maßgebliche Abgeordnete Penner, "sich für das Scheitern dieses Gesetzes nicht die Schelle umhängen lassen will," Sollte also Schäuble sein Gesetz trotz aller Widerstände in das Gesetzgebungsverfahren einführen, wäre die SPD mit Hilfe ihres Entwurfes zum Jagen zu tragen.

Die FDP hat eine entscheidende Verantwortung für den Gesetzesentwurf übernommen und das ganze bisherige liberale Image von Hirsch (ohne Baum) in die Waagschale geworfen. Die FDP will diesen Entwurf durchziehen, gerät aber zwischen die Mühlsteine, wenn sie der CSU für weitere Verschlechterungen nachgeben müßte. Dann waren Hirsch und nicht zuletzt Frau Funcke die Opfer und die FDP verlöre im Ausländer- und Asylbereich das letzte Stück Liberalität.

Nun scheint es aber so zu sein, daß es der CSU nicht gelingen wird, das Projekt zu stoppen, vorausgesetzt, daß die FDP sich doch noch ein weiteres Stück über den Tisch ziehen läßt. Am nächsten Wochenende wird Schäuble ln der Evangelischen Akademie Mülheim sprechen. Zur gleichen Zeit findet in der Evangelischen Akademie Tutzing eine Tagung zum Entwurf des Ausländergesetzes statt. Sie wird mitgetragen vom Bundesvorstand des DGB und vom Ökumenischen Vorbereitungsausschuß zur Woche der ausländischen Mitbürger. Beide Tagungen führen Politiker mit der Fach- und Aktionsbasis zusammen. Man kann davon ausgehen, daß bei diesen Tagungen und weiteren bereits geplanten Akademietagungen der gesellschaftliche Widerstand deutlich wird, der bereits vorhanden ist und noch aktiviert werden könnte, sollte dieses Gesetz mit einigen Verbesserungen auf der einen, mit substantiellen Verschlechterungen auf der anderen Seite in den Bundestag eingebracht werden.

In dem jüngsten Flugblatt des Ökumenischen Vorbereitungsausschusses zur Woche der ausländischen Mitbürger und des Bundesvorstandes des DGB "Die Würde des Menschen ist unantastbar" "Für ein humanes Ausländerrecht" sind einige Aktionsvorschläge gemacht:

1. Wir bitten Kirchengemeinden, Gewerkschaftsgruppen, Ausländerorganisationen und Bürgerinitiativen, sich mit dem Referentenentwurf zu befassen und darüber Gespräche mit Vertretern der politischen Parteien in Bund und Ländern zu führen... Besuchen Sie Ihre Abgeordneten in dieser Sache.

3. Wirken Sie durch Briefe an Zeitungen und andere öffentliche Medien an der öffentlichen Willensbildung für ein verbessertes Ausländerrecht mit...

4. Die Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, Kirchen, Gewerkschaften, Wohlfahrtsorganisationen, Menschenrechtsorganisationen und Vertreter politischer Parteien haben Stellungnahmen zum Referentenentwurf erarbeitet. Fordern Sie diese Erklärungen an…

Die Wahrung der Menschenwürde

Wenn ich von unserer gemeinsamen Arbeit im vergangenen Jahr spreche, so muß ich von einem geradezu verzweifelten Kampf sprechen, den Ihr und wir mit Euch in diesem Jahr geführt haben, um die bedrohte Menschenwürde der Flüchtlinge zu verteidigen. Bei der letzten Jahrestagung habe ich versucht, den Argumentationskomplex der Bundesregierung und ihnen zugeordneter Länderregierungen, der gegen die Flüchtlinge gerichtet war, als unglaubwürdig hinzustellen: daß nämlich, die Bundesrepublik am Ende ihrer Aufnahmefähigkeit für Flüchtlinge angelangt sei, daß sie überbevölkert sei, an hoher Arbeitslosigkeit leide und über keine Unterbringungsmöglichkeiten mehr verfüge. Dieses Lügengespinst ist deutlicher als damals geahnt durch die dramatischen Entwicklungen der letzten Monate zerrissen, Die Aufnahmefähigkeit der Bundesrepublik für Flucht und Zuwanderung in ganz anderen als den bisherigen Größenordnungen ist eine Frage der politischen Einstellung. Wir erleben, wozu Regierungen fähig sind, wenn sie meinen, sie seien es ihren Wählern, vor allem den Rechtswählern und der internationalen Öffentlichkeit schuldig.

Allerdings ist die Zuwanderung aus Osteuropa und der DDR in einem Umfang erfolgt, auf den die Bundesrepublik nicht vorbereitet war. 400.000 aus Osteuropa und 300.000 aus der DDR. Ihr Kommen offenbart die Grenzen und Mangel des derzeitigen Arbeits- und Wohnungsmarktes in drastischer Weise.

Die Bundesrepublik steht vor einer Herausforderung, der sie von ihren wirtschaftlichen Möglichkeiten her gewachsen sein könnte. Es ist aber die Sorge berechtigt, daß sie diese Herausforderung politisch nicht besteht und Gefahr läuft, schwere Schlagseite nach rechts zu bekommen, Dies wiederum. könnte sehr ernste Folgen für die Flüchtlinge haben. Der Wahn droht immer mehr die Herrschaft zu übernehmen. Sind wir dem diesmal gewachsen?

Hessischer Wahn

In Hessen konnte anfangs des Jahres der schlimmste Wahlkampf seit Bestehen der Bundesrepublik geführt werden. Der CDU/CSU insgesamt, und nicht nur der hessischen CDU, sind nach den Berliner Wahlen die moralischen Sicherungen durchgebrannt. Von da an haben die Rechtsradikalen Regie geführt, und die CDU hat nach Anweisung getanzt. Wer hätte das vor Berlin und außerhalb Bayerns für möglich gehalten?

Der Sturm der Entrüstung ist ausgeblieben, als noch Zeit gewesen wäre, das Schlimmste zu verhindern, Jedermann wußte, daß es die Strategie von CDU und CSU war, von nun an menschenfeindliche Wahlkämpfe zu führen. Oder will einer im Ernst behaupten, er hätte wieder nicht gewußt, was vorgeht? Ein solcher gespenstische Wahlkampf, wie er dann in Hessen skrupellos geführt wurde, hätte mit allen Mitteln verhindert werden müssen. Daß er stattfinden konnte, ist die Katastrophe, eine größere Katastrophe als der Einzug von Rechtsradikalen in den Römer. Was sollen alle Gedenkreden zum Aufstand vom 20.Juli 1944, zur Kapitulation Hitlerdeutschlands, zur Reichspogromnacht? Was sollen alle Feiern "40 Jahre Bundesrepublik"? Die entscheidende Lektion ist nicht gelernt! Nicht nur, wer Minderheiten zu Sündenböcken macht, verrät unsere Republik, sondern auch, wer es ohne allerschärfsten Protest zuläßt. Die Republik hat ihre Schlappe bereits vor dem Wahltag erlebt.

PRO ASYL hat in Appellen, Briefen und Anzeigen die Meinungsführer der politischen und geistigen Öffentlichkeit beschworen: Stoppt die Wahlkampagne gegen Asylbewerber! Wehrt den Angriff auf eine stimmlose Minderheit ab! Die Literaten und Verleger von Weltliteratur waren mit den Satanischen Versen beschäftigt. Was ficht sie da eine Provinzposse in Hessen an?

PRO ASYL hat die Kirchen Hessens beschworen: Läutet die Glocken zum Schutz der Flüchtlinge! Die evangelische Kirche hat sich gegen den Wahlkampf der CDU gestellt, Die katholische, meine Kirche hat in der Öffentlichkeit geschwiegen, SPD und Grünen haben sich im Wahlkampf in klarer Weise zugunsten der Asylbewerber ausgesprochen,

Nach der Wahl haben alle Sprachlosen in dieser Republik ihre Sprache wiedergefunden. Auf einmal wußten sie wieder, was es gegen Rechts zu sagen gilt. Als es zu spät war. Die Rechtsextremen sind durch die CDU, die ihre fremdenfeindlichen Parolen übernommen hat, und durch das Schweigen der geistigen und politischen Meinungsführer gesellschafts- und politikfähig gemacht worden. Dies gilt, auch wenn die CDU einsehen mußte, mit einer solchen Strategie keine Wahlen gewinnen zu können.

Für mich war dieser Wahlkampf eine weitere Erklärung dafür, wie es 1933 zu Hitler kommen konnte, Die Feigheit der Gutgesinnten und Wohlanständigen macht so etwas vor allem möglich. Wehe den Flüchtlingen in der Bundesrepublik, wenn künftig nicht mehr Mut aufgebracht wird, sich gegen einen Trend zu stellen, der auf chauvinistischem Hintergrund neues Unheil gegen die Juden der Zukunft ausbrütet.

Ich selbst fühlte mich in einer gespenstischen Situation. Ich spürte, daß etwas Ungeheuerliches geschah, und habe mir alle zu Gebote stehenden Möglichkeiten auszuschöpfen versucht. Dabei habe ich nicht nur die Erfahrung der Feigheit der Gutgesinnten gemacht, sondern auch die, daß es schier unmöglich war, meine Betroffenheit andern, die nicht in Hessen lebten, zu vermitteln. Außerhalb Hessens bekam man alles nur in schwacher Medienvermittlung mit.

In Hessen war jeder Fremde und Flüchtling von Plakaten wie von bedrohlichen Geschützen umstellt. So haben andere und ich dies empfunden. Ich selbst drohte psychisch außer Fassung zu geraten, weil ich einen Aufstand der Öffentlichkeit erwarte , der ausblieb. Es war sogar unmöglich, meine Betroffenheit den anderen Mitgliedern von PRO ASYL weiterzugeben. Ich geriet in die Gefahr emotionaler und geistiger Isolierung mit dem naheliegenden Effekt, PRO ASYL in meiner, durch die anderen nicht abgedeckten, individuellen Betroffenheit einzusetzen. Eine Situation, die mir den Gedanken nahelegte, meine Funktion als Sprecher von PRO ASYL aufzugeben.

Ich berichte dies, weil es symptomatisch sein könnte für ähnliche Situationen, in die viele von Euch hineingeraten sind oder noch hineingeraten werden, Solidarität vermag zu einer Betroffenheit zu führen, die so tief reicht, daß ich sie anderen nicht mehr mitteilen kann, deren Handeln aber vonnöten wäre. Dadurch droht eine Abkapselung, die entweder in Aggression gegen sich oder gegen andere umschlagen könnte, also in eine Destruktivität, die den Menschen, um die es geht, nichts mehr nützt.

Wäre daraus der Schluß zu ziehen, die eigenen Emotionen durch Super-Vision abzubauen, sich eine dickere Haut zuzulegen und rationaler zu werden? Ich glaube nicht. Die auf Sympathie und Solidarität beruhende Betroffenheit ist und bleibt die stärkste humanitäre und damit auch die stärkste politische Kraft, über die gesellschaftliche Minderheiten verfügen. Sie ist nicht destruktiv sondern konstruktiv, wenn sie einhergeht mit politischem Verstand und dem ständigen Versuch, sich mit anderen, ähnlich eingestellten Menschen zusammenzuschließen, konzentrische Kreise durchaus absteigender, also schwächer werdender Sympathie zu bilden, Dies bedeutet also, Menschen und Gruppen, die nicht die gleichen. Kontakte zu Flüchtlingen haben, in eine gestufte Verantwortung einzubeziehen, die gesellschaftlichen Kräfte ohne falsche Rücksicht an ihre Verantwortung und ihre moralischen Prinzipien zu gemahnen und allen, die ihre Macht mißbrauchen mit rechtsstaatlichen Mitteln die moralische Legitimation, ohne die keine Macht der Welt auskommt, zu entziehen.

Es gibt die Solidarität in der Bundesrepublik, nicht unbedingt die der Großen, aber die der Kleinen. Die Solidarität der Kleinen mit den Flüchtlingen, Es gibt kaum etwas Großartigeres in der Bundesrepublik als diese tiefe und unverbrüchliche Solidarität mit den verachteten Asylbewerbern. Gerade hier wird die weithin vergessene Solidarität neu buchstabiert. Warten wir nicht auf die Solidarität der Großen. Stärken wir die Solidarität der Kleinen. Das ist die wirkliche Solidarität. Nur sie verhindert politische Katastrophen,

Bayerischer Wahn

Der bayerische Ministerpräsident Max Streibl (CSU) hat seinen spezifischen Beitrag zum 9.November geleistet. Er macht die Asylbewerber verantwortlich für. die Wohnungsnot in der Bundesrepublik. Angesichts des steigenden Bedarfs an Unterkünften für Übersiedler aus der DDR fordert er alle Bonner Parteien auf, erneut über die Asylgesetzgebung nachzudenken. Die große Masse der Asylbewerber reise aus rein wirtschaftlichen Gründen in die Bundesrepublik ein. Die DDR-Flüchtlinge, wie die Bundesbürger "tüchtige und fleißige Menschen", wollten hingegen Selbstbestimmung. Der wichtigste Grund für die zunehmenden Probleme auf dem Wohnungsmarkt seien nicht "unsere Neubürger aus der DDR" sondern die "Asylantenwelle".

Wir haben es hier mit dem allzu bekannten Phänomen der Problemverlagerung zu tun, das mit einem wahnhaften Realitätsverlust einhergeht. Er ist typisch für rechtsstehende Politiker, die sich überfordert fühlen und eine schwache Fremdgruppe brauchen, um sie der Nation als Sündenböcke vorzuführen…

Die paranoide Verdrängung der Wirklichkeit zeigt sich darin, daß Asylbewerber kraft Asylverfahrensgesetz in Wohnheimen unterzubringen sind. Dabei handelt es sich um frühere Gastarbeiterunterkünfte, abgelegene Wohnheime, nicht mehr genutzte Kasernen oder um unrentable Pensionen und Hotels. Asylbewerber sind damit keine Konkurrenten auf dem zusammengebrochenen Wohnungsmarkt. Nicht im geringsten tragen sie die Verantwortung dafür, daß der soziale Wohnungsbau seit Jahren zum Erliegen gekommen ist, und die Volkszählung noch vor der neuen Einwanderung aus Osteuropa und der DDR Millionen fehlender Wohnungen festgestellt hat,

Wenn Bayerns Ministerpräsident angesichts des Kommens von weit mehr als einer halben Million Über- und Aussiedler, die Wohnungen brauchen, die Flüchtlinge für fehlenden Wohnraum verantwortlich macht, lenkt er politisches Versagen auf die derzeit schwächste Minderheit ab. Dies kann sich, wenn der politischen Urversuchung nicht aufs äußerste widerstanden wird, verheerend auf die Flüchtlinge aus den Kriegs- und Krisengebieten der Welt auswirken. Die sich in den Wahlen und Umfragen offenbarende Fremdenfeindlichkeit ist nach nüchterner Einschätzung durchaus noch steigerungsfähig. Angriffe auf Wohnunterkünfte für Asylbewerber, die auf das Konto rechtsextremer Gruppen gehen, sind ein bedenkliches Signal. Streibl legitimiert dieses Potential in nicht mehr steuerbarer Weise. Er und alle Gesinnungsgenossen ziehen damit die Verantwortung für alle Angriffe auf Flüchtlinge auf sich, die für die nächste Zeit zu befürchten sind.

Es genügt nicht diesen Vorgang, aus distanzierter Beobachtung als klassischen Verlauf der Herrschaftssicherung durch Sündenböcke anzusehen. Es ist große Gefahr im Verzug, Gefahr für die zu uns geflüchteten Menschen, denen es neben der Freiheit vor allem um die Rettung ihres Lebens ging; Gefahr für das Eindringen rechtsextremen Fühlens und Handelns in noch größere Bevölkerungsteile. Die sogenannte Sinus-Studie über Rechtsextremismus in der Bundesrepublik. die sich nach einem Jahrzehnt voll bewahrheitet, hält bis zu einem Drittel der (bundes)deutschen Bevölkerung für anfällig gegenüber deutlich fremdenfeindlichen Einstellungen.