ARCHIV ASYL 1991 | |||
Bonn, 9. November 1991 Demonstration zur Reichspogromnacht (9. November 1938) Lernen aus der Geschichte?
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Lernen aus der Geschichte? Der heutige Tag ist in der Nachkriegsgeschichte Deutschlands von herausragender Bedeutung. Werden wir endlich den Schatten unserer Geschichte annehmen, aus dem manche politische Kreise seit Jahren herauszutreten versuchen? Werden wir ihn endlich annehmen und aus ihm die entscheidenden Lehren ziehen? Die Reichspogromnacht ist nach 53 Jahren endgültig nicht bloße Geschichte sondern unmittelbare Gegenwart. Bisherige Gedenkveranstaltungen, so ernst und erschütternd sie gewesen sein mögen, haben so wenig bewirkt, als hätte es sie alle nicht gegeben. Lernen aus der Geschichte? Ganze Bibliotheken sind voller Literatur und Analysen zu Antisemitismus und Rassismus, zum Faschismus, Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit. Es ist zu diesen Themen alles gewusst, was es zu wissen gilt. Hat es aber geholfen? Apokalypse now! Reichspogromnacht heute!
Unsere Republik, das vereinigte große Deutschland ist geschlossenen Auges in diese Pogromstimmung geraten und zeigt sich bislang außerstande, diese Herausforderung als demokratischer, der Humanität und Menschenwürde verpflichteter Rechtsstaat zu bestehen. Dabei sind unsere politischen Gegner in erster Linie nicht die jungen Menschen, die aus tiefem Selbsthaß heraus zu Hunderten, zu Tausenden Asylbewerber, Aussiedler und Menschen verschiedenster nationaler Herkunft angreifen, entehren, in Angst und Schrecken versetzen und körperlich verletzen. Und dies in Ost und West! Die Analysen hierzu sind alle vorhanden! Unser Gegner ist eher die maßgebende politische Klasse, die demokratischen Parteien inklusive SPD und FDP. Nehmen wir auch noch ins Rotieren geratene Grüne hinzu. Es genügte ein durchschnittliches Politik- und Geschichtsverständnis, um zu durchschauen, was sich derzeit in Deutschland abspielt: Wir haben es zu tun mit
Monate-, ja jahrelang läuft eine Asyldebatte, die nur auf
abgestellt ist: geschichtsvergessen, verfassungsvergessen, Wähler versessen. Welche Verblendung bei den verantwortlichen Politikerinnen und Politikern der SPD, wenn sie durch die Lande ziehen, und den Kohl-Kompromiss mit 6-Wochenverfahren, Sammellagern und beschleunigter Abschiebung als eine politische Leistung verkaufen! Schon einmal hat die SPD als Vorreiter mit Erich Honnecker zusammen das „Berliner Loch" gestopft, die Zufluchtsmöglichkeit für tausende Flüchtlinge. Eine Art Pogromstimmung gab es bereits vor einem Jahr in Nordrhein-Westfalen, als die Oberstadtdirektoren von Bochum. Dortmund, Düsseldorf, Duisburg, Essen, Gelsenkirchen, Hagen, Köln und Wuppertal sich mit einem Brief an Ministerpräsident Johannes Rau gewandt hatten und die Auffassung vertraten, der innere Friede sie in Gefahr. Rau müsse was tun gegen die Asylbewerber, Aussiedler und Roma. Und Rau ließ sich nicht lange bitten. (Er reagierte mit einem 7-seitigen Maßnahmenkatalog.) Die Bild-Zeitung griff am 17. September das Thema auf: „Asylanten im Ruhrgebiet, wer soll das bezahlen?" „Bonn, tu was...!" Wer nach Hoyerswerda die Zeichen der Zeit immer noch nicht erkannt hat, wer ,nach Hoyerswerda, Saarlouis und Hünxen die Abwehrdiskussion gegen Flüchtlinge so weitergeführt hat wie bisher, wer sich auf Schnellverfahren und Internierungslager für Asylbewerber einigen konnte, ist mitschuldig an der Pogromstimmung in Deutschland. Unsere Parteien werden nur noch von Wahlterminen wirklich angetrieben. So sind sie unfähig, die neue Herausforderung des Rechtsextremismus anzunehmen. Sie stoßen mit ihrer barbarischen Auseinandersetzung diese Republik immer tiefer in den Sumpf des Rassismus. Sie lassen die Bundesrepublik und eine stimmlose Minderheit in höchste Gefahr geraten |