Herbert Leuninger ARCHIV MIGRATION

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
Sonntag, 8. August 1993, S. 5
Rücksichtslose Durchsetzung der westlichen Interessen"
Rechtsextremismus und der Streit um das neue Asylrecht
Fragen an Herbert Leuninger, Sprecher von PRO ASYL

INHALT

Der katholische Pfarrer Herbert Leuninger aus Hofheim gehört zu den erbittertsten Gegnern des seit dem 1. Juli geltenden Asylrechts. Leuninger, der "bundesweiten Arbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge", setzt darauf, daß das Bundesverfassungsgericht die neuen Gesetze für grundgesetzwidrig erklären wird.

Über sich selbst sagt der streitbare Geistliche: "Mit zunehmendem Alter werde ich radikaler."

Manche behaupten Pfarrer Leuninger sei ein Fanatiker. Sie wurden auch einmal als „Amok-Redner" bezeichnet.

Ich mache mit mir die Erfahrung, daß ich, je älter ich werde, und je stärker sich die politischen Entwicklungen gegen Flüchtlinge richten, radikaler werde. Das schließt mit ein, daß ich eine Sprache wähle, die von denen, die politisch mit mir nicht übereinstimmen, als sehr aggressiv empfunden wird. Ich weiß darum. Ob es eine Stärke oder eine Schwäche ist, das kann ich selbst nicht beurteilen.

Seit sich das Verfassungsgericht mit Eilanträgen von Asylbewerbern befassen muß, ist die Diskussion um das Asylrecht neu entfacht. Freuen Sie sich darüber?

Ja, wir halten die verfassungsrechtliche Diskussion für notwendig. Sie ist politisch nicht in ausreichendem Maße geführt worden. Wir hoffen, daß das Bundesverfassungsgericht in eine sehr gründliche Erörterung über die Verfassungswidrigkeit der Asylgesetze eintritt.

Warum wollen Sie eigentlich, daß alle Menschen, denen es auf dieser Welt schlecht geht, nach Deutschland kommen?

Bei dieser Frage gehen Sie von der verbreiteten Wahnvorstellung aus, als wollten und könnten alle Flüchtlinge dieser Welt nach Deutschland kommen. Das ist nicht der Fall. 95 Prozent aller Flüchtlinge in anderen Erdteilen gehen höchstens in ein Nachbarland und kommen gar nicht erst nach Europa. Wenn ich ihre Frage dennoch aufgreife, sage ich, die Bundesrepublik hat eine sehr große Verpflichtung, Flüchtlinge aufzunehmen.

Sie haben behauptet, daß die Bundesrepublik sich mit dem neuen Asylverfahrensgesetz abschottet. Aber auch im vergangenen Monat gab es mehr als 20 000 Menschen, die hier um Asyl nachgesucht haben. Von Abschotten kann doch keine Rede sein.

Wir haben stets vorausgesagt, daß sich die Zahl der Flüchtlinge nicht ändern, daß sich aber ihr rechtlicher Status dramatisch verschlechtern wird. Im Übrigen rechne ich damit, daß es deutlich weniger offizielle Anträge geben wird, während die Zahl derer, die heimlich die Grenze überschreiten, weiter zunimmt; auch im vergangenen Jahr wurden nur 2,5 Prozent der Anträge an der Grenze gestellt.

Beteiligt sich „Pro Asyl" daran, das Flughafen-Verfahren auszuhebeln?

Ja. Als die Flüchtlinge am Flughafen in Hungerstreik traten, war ich dort und habe mich davon überzeugt, daß die Menschen in eine haftähnliche Situation gekommen und unter psychischen Streß geraten sind. Die Bedingungen sind nicht vereinbar mit einer humanen Behandlung von Menschen, die rein psychisch so nicht die Voraussetzungen für ein rechtsstaatlich gültiges Verfahren mitbringen.

Was erwarten Sie vom Verfassungsgericht?

Wir erwarten, daß einige zentrale Punkte der neuen Asylregelung als verfassungswidrig festgestellt werden, vor allem die sogenannte Drittstaatenregelung. Wir haben ein Gutachten dazu in Auftrag gegeben. Außerdem halten wir die generellen Verfahrensverkürzungen für sehr bedenklich. Sie tangieren ein zentrales Fundament unseres Rechtsstaates, nämlich die Rechtswegegarantie.

Angenommen, fünf Millionen Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion wollten zu uns kommen, ohne daß sie politisch verfolgt sind. Sollten wir die aufnehmen?

Nein. Unsere öffentliche Intervention gilt dem politischen Flüchtling und dem Menschen, der vor der Bedrohung von Leib und Leben flieht. Die Frage der Einwanderung ist aber nicht identisch mit der Flüchtlingsfrage. Wir machen durchaus einen Unterschied zwischen politischen Flüchtlingen im strengen Sinne und Flüchtlingen, die vor Krieg oder Bedrohung ihres Lebens flüchten, und Menschen, die aus berechtigten Gründen eine bessere oder überhaupt eine Lebensexistenz suchen.

Müssen Sie nicht fürchten, daß eine neue Asyldebatte zur Abschaffung des individuellen Asylrechts führen könnte?

Ich schließe dies nicht aus: Die Frage lautet aber auch, was wird in Europa aus der Genfer-Flüchtlingskonvention, die ja auch in anderen Ländern ähnlich restriktiv ausgelegt wird, wie wir das Grundrecht auf Asyl jetzt auslegen. Deswegen sind wir nicht so brennend daran interessiert, daß nur noch eine nationale Diskussion geführt wird. Und das Zweite: Wir haben Sorge, daß die Rücknahmeübereinkommen mit den sogenannten sicheren Drittstaaten, die ja ihrerseits wieder Rücknahmeübereinkünfte mit ihren Nachbarn abschließen, zu Kettenabschiebungen führen. Das bedeutet, unter Umständen bricht der ganze internationale Rechtsschutz für Flüchtlinge zusammen.

Wenn man Ihnen bei Ihren öffentlichen Auftritten zuhört, hat man den Eindruck, Sie seien kreuzunglücklich, in diesem Land zu leben. Stimmt das?

Ich erweitere dieses Gefühl auf die gesamte politische Konstellation, wie wir sie jetzt weltweit haben. Deutlicher gesagt: Für mich war der Golfkrieg ein schwerer Rückfall. Krieg ist wieder „in", und die Verteilungskonflikte, vor denen wir in dieser Welt stehen, werden immer martialischer geführt bis hin zu der Auseinandersetzung zwischen Opel und VW, die sich zumindest verbal geradezu kriegslüstern darstellt. Das alles sind Zeichen dafür, daß wir mit der rücksichtslosen Interessendurchsetzung der westlichen Hemisphäre und mit ethnischen und national engen Vorstellungen vor einer bedenklichen Entwicklung stehen. Das läßt mich - menschlich gesehen - sehr unglücklich sein. Kompensiert wird dieses Gefühl nur durch die vielen Menschen, die sich mit Flüchtlingen solidarisieren. Das sind großartige Erfahrungen.

Gemeinsam mit einer Werbeagentur hat „Pro Asyl" den Slogan veröffentlicht: „Stammeskriege, Hexenjagd, Judenverfolgung, Asylkompromiß". Malen Sie da nicht den Teufel an die Wand?

Wir brauchen ihn nicht an die Wand zu malen, er ist zugange.

Sehen sie den Unterschied nicht zwischen den staatlich organisierten Judenverfolgungen und der Gewalt gegen Ausländer?

Die Judenverfolgung muß in ihrer ganzen Geschichte vor allem auch unter dem Aspekt der Sündenbockfunktion gesehen werden. In dieser Hinsicht machen Asylbewerber ähnliche Erfahrungen. Gewalt gegen Flüchtlinge ist keine politisch-staatlich legitimierte Gewalt, aber zumindest eine, die staatlich nicht ausreichend verhindert wurde. Es liegt also eine indirekte Verantwortung vor. Wir haben immer gesagt: Wer das Asylthema so hochzieht, der lenkt im Grunde das gewaltbereite Potential auf Flüchtlinge und Ausländer.

Sie haben gesagt, die Reichspogromnacht sei nicht Geschichte, sondern Gegenwart.

In dem Sinne, daß aus dieser Geschichte jetzt gelernt werden müßte. Die Mechanismen damals und heute, sind die gleichen. Die Gewalt, die sich in der Bundesrepublik gegen Fremde und Flüchtlinge richtet, kommt nicht vom Rande her, die kommt aus der Mitte der Gesellschaft.

Aber wer ruft hier zu Pogromen auf?

Man braucht nicht zu Pogromen aufzurufen. Pogromstimmung kann sich entwickeln: Hoyerswerda war ein typisches Pogrom, eine Situation, in der Bevölkerung Gewalt durch Applaus gerechtfertigt hat.

Was muß gegen den Rechtsextremismus getan werden?

Nötig wäre eine Veränderung in der Politik, die wieder auf das zurückginge, was wir nach dem Zweiten Weltkrieg versucht haben. nämlich eine Gesellschaft zu bauen mit Chancengleichheit und Verteilungsgerechtigkeit.

Das klingt nicht sehr hilfreich.

Mit „Klein-Klein" oder nur mit Repression ist das Gewaltproblem nicht lösbar. In Zukunft müssen wir mit noch mehr Gewalt rechnen, wenn das Schema der gewalttätigen Durchsetzung eigener Interessen selbstverständlich wird, und wenn wir nicht zu einer weltweiten Verteilungsgerechtigkeit gelangen. Die würde von uns eine Einschränkung des Konsums verlangen, die alles in den Schatten stellt, was jetzt an Sparmaßnahmen gehandelt wird

Welche Politiker schätzen Sie besonders?

Konrad Weiß (Bündnis 90/Grüne) und die Linken in der SPD.

Die Fragen stellten Peter Lückemeier und Wolfgang Wischmeyer