Herbert Leuninger

ARCHIV ASYL

«Flüchtlinge werden zu Sündenböcken gemacht»

(Das Interview von Johanna Jäger-Sommer mit dem Sprecher von "Pro Asyl» wurde am 25. 1.1993, also vor den Ausschreitungen von Solingen, geführt.)



 

Die Verlagerung zentraler Probleme unseres Staates auf die Flüchtlinge ist eine maßgebliche Ursache für die ausbrechende Fremden- feindlichkeit mit Gewalt und Terror auf der Straße.

Herr Pfarrer Leuninger, Sie sind Sprecher der Arbeitsgemeinschaft "Pro Asyl» und von daher seit Jahren mit den Problemen der Asylsuchenden in unserem Lande befaßt. Wie beurteilen Sie die augenblickliche Situation, nachdem ja die schreckliche Fremdenfeindlichkeit und Pogrommentalität des letzten Herbstes zurückgedrängt zu sein scheint?!

Ich begrüße es außerordentlich, daß Millionen Menschen auf die Straße gegangen sind, um deutlich zu machen, daß sie Terror und Gewalt gegen die Fremden nicht wollen. Dennoch bleibt eine sehr zentrale Frage unbeantwortet, nämlich: Wie wird es künftig mit den Flüchtlingen sein? Ich habe es als Schizophrenie empfunden, daß Millionen Menschen auf die Straße gehen, gegen Gewalt und für die friedvolle und freundliche Form des Zusammenlebens mit den Fremden, während gleichzeitig in Bonn eine große Koalition gegen Flüchtlinge gebildet wurde, die den Beschluß gefaßt hat, das Grundrecht auf Asyl faktisch abzuschaffen.

Welche Rolle haben Ihrer Meinung nach Politiker sowohl bei der Entstehung als auch bei der Bekämpfung der Fremdenfeindlichkeit in Deutschland gespielt?

Beim Kommunalwahlkampf in Hessen 1989 habe ich einen offenen Brief an den damaligen Ministerpräsidenten Walter Wallmann von der CDU gerichtet, weil die CDU einen Wahlkampf gegen Flüchtlinge geführt hat. Ich habe damals eine solche Politik verantwortlich gemacht für einen Flächenbrand der Fremdenfeindlichkeit, der dann nicht mehr aufgehalten werden kann. Dies ist ja dann in einer ganz schlimmen Weise eingetreten. In der Zwischenzeit gab es eine Diskussion in der Öffentlichkeit, die den Eindruck erwecken mußte, als seien die Flüchtlinge wirklich das größte Problem unseres Landes, als würden die Flüchtlinge unseren Staat an der Wurzel treffen. Diese Verlagerung zentraler Probleme unseres Staates auf die Schwachen, auf die Flüchtlinge, durch die Politik, durch die politische Diskussion, ist eine maßgebliche Ursache für die dann ausbrechende Fremdenfeindlichkeit mit Gewalt und Terror auf der Straße, wie wir es im Herbst 1991 und wie wir es in verschärfter Form dann 1992 erlebt haben.

Häufig hört man Politiker von einem «offensichtlichen Asyl-Mißbrauch» sprechen, den es zu bekämpfen gilt. Was halten Sie davon?

Es gibt natürlich Menschen, die einen Asyl-Antrag stellen, obwohl sie einen Schutz im Sinne des Artikels 16 nicht beanspruchen können. Aber die Mehrheit der Menschen, die hier Asyl beantragen, sind schutzwürdig, wenn ich einen Begriff einsetze, der von der Wahrung der Menschenwürde und von der Bedrohung der Menschenwürde her kommt. Ich kann nicht sagen, daß die Mehrheit der Flüchtlinge politisch verfolgt ist im strengen Sinne des Wortes, d. h. wie der Artikel 16 noch vor seiner gravierenden Änderung ausgelegt wurde. Aber ich kann durchaus sagen - und das ist eine Realität, die auch durch das Ausländerrecht und durch weitere Gesetze begründbar ist -, daß die Mehrheit der Flüchtlinge einen Anspruch darauf hat, geschützt zu werden, zumindest in dem Sinne, daß sie nicht in ihre Heimat zurückgeschickt werden, wo Krieg und Bürgerkrieg herrschen oder wo sie diskriminiert, unterdrückt und in ihren Lebensrechten zentral beeinträchtigt werden oder wo ihnen Gefahr für Leib und Leben droht.

Viele Millionen Menschen auf der Welt sind auf der Flucht, und obwohl die meisten Flüchtlinge in ihren unmittelbaren Nachbarländern bleiben - wie arm die auch immer sein mögen -, sind doch auch schon einige Hunderttausende Menschen nach Deutschland gekommen, und es werden mit Sicherheit noch mehr werden. Wir können doch nicht alle aufnehmen. Was ist zu tun?

Zuerst müssen wir uns darauf einrichten, daß die große und reiche Bundesrepublik nach wie vor Flüchtlinge aufnehmen muß, in einer Größenordnung, die vielleicht alles Bisherige in den Schatten stellt. Aber zum einen verweise ich auf die Situation nach dem Zweiten Weltkrieg. Damals sind 14 Millionen Menschen in das zerstörte Rest-Deutschland vertrieben worden, und dies hat die politische Gemeinschaft in großer Gemeinsamkeit als Aufgabe gesehen und auch bewältigt. Jetzt sind, alle Flüchtlinge der letzten 20 Jahre zusammengenommen, noch nicht ganz 2 Millionen Menschen da, also vergleichsweise ein Bruchteil der damaligen Vertriebenen und Flüchtlinge. Diese Größenordnung zeigt, daß wir sicher noch nicht an ein Ende unserer Aufnahmefähigkeit gelangt sind.

Das ist das eine. Das Zweite ist allerdings auch eine politische Aufgabe, die im europäischen oder internationalen Rahmen gelöst werden müßte und die nicht deutlich genug angegangen wurde, nämlich eine vernünftige Verteilung von Flüchtlingen, z. B. aus den Kriegs- und Bürgerkriegsgebieten des ehemaligen Jugoslawien. Es wäre notwendig, daß das Amt des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen die Kompetenz erhielte, den einzelnen Ländern zu sagen, wie viele der Flüchtlinge, die in unmittelbarer Umgebung nicht mehr versorgt werden können, aufgenommen werden müssen, und welche finanziellen Mittel für die Versorgung der Flüchtlinge in den unmittelbaren Fluchtgebieten von den einzelnen Staaten zur Verfügung zu stellen wäre. Das wäre eine zentrale politische, internationale Aufgabe, für die die Bundesrepublik auch eine große initiative Verpflichtung hätte. Sie hat sie bisher nicht im ausreichenden Maß wahrgenommen, sondern hat mit anderen Ländern zusammen auf Abschottung gesetzt und tut es immer noch, zum Schaden der Flüchtlinge und zum Schaden der internationalen Humanität.

Ein Mittel zu dieser Abschottung ist ja die Grundgesetz-Änderung, die jetzt beschlossen scheint. Kann überhaupt eine Grundgesetz-Änderung in unserer Situation helfen?

Wenn ich ein Grundgesetz nicht mehr ernstnehme, kann ich es so einschränken, daß ich es praktisch abschaffe. Dies ist mit dem neuen Artikel 16a geplant. Man hält den Wortlaut eines Grundrechts aufrecht, umgibt dieses Grundrecht aber mit so vielen Abwehrbestimmungen, daß es nicht mehr wahrgenommen werden kann. D. h., es werden künftig nur noch Flüchtlinge in ein Verfahren kommen können, die entweder mit dem Flugzeug landen oder mit dem Schiff ankommen, vielleicht sogar nur solche, die irgendwo mit dem Fallschirm über unserem Land abspringen. Wir sind damit gesetzlich darauf eingestellt, den Schutz, den Flüchtlinge nach wie vor suchen, nicht mehr zu gewähren und es anderen europäischen Ländern zu überlassen, entweder die Flüchtlinge, die von Deutschland nicht mehr aufgenommen werden, selbst aufzunehmen, oder sogar die noch schlimmere politische Arbeit zu verrichten, diese Flüchtlinge wieder in ihre Herkunftsländer zurückzutransportieren.

Gibt es denn überhaupt wirksame Mittel fiir uns: fiir Deutschland oder für Europa, sich abzuschotten? Es gibt ja dieses Schlagwort «Festung Europa».

Es gibt letztlich nur eine Möglichkeit, Flüchtlinge von Europa fernzuhalten: mit einem massiven militärischen Einsatz gegen sie. Das will derzeit niemand, obwohl es Ansätze gibt, die Abwehr von Flüchtlingen zu militarisieren, d. h. künftig mehr als bisher auch dem Militär und seinen logistischen Mitteln zu überlassen. Dennoch, die Fluchtbewegung, die Europa künftig betreffen wird, wird sich verstärken. Die rechtlichen Möglichkeiten für Flüchtlinge, Schutz zu erfahren, werden immer mehr beschnitten werden - die Bundesrepublik spielt hier eine geradezu exemplarische Rolle; Flüchtlinge werden dennoch weiterhin kommen - sie haben gar keine Alternative. Ihr Status wird sich verschlechtern, sie werden in stärkerer Weise als bisher illegal kommen, und sie werden versuchen, auf jedwede Weise zu bleiben. Was das für Auswirkungen hat auf die einzelnen Länder und auf die Flüchtlinge, ist jetzt noch nicht absehbar.

Eine große Gruppe bilden die Flüchtlinge aus Kriegs- und Bürgerkriegsgebieten, also z. B. aus Sri Lanka, Afghanistan, Somalia, Kurdistan oder dem ehemaligen Jugoslawien. Es wird in Zukunft wahrscheinlich immer mehr solcher Flüchtlinge geben, denn es gibt ja immer wieder Länder, in denen neue Bürgerkriege aufflammen. Diese Flüchtlinge werden hier in ein Asylverfahren gedrängt und werden generell abgelehnt. Was soll mit diesen Menschen geschehen?

Rechtlich gesehen müßte die Genfer Flüchtlingskonvention erweitert werden oder, wenn sie nicht erweitert wird, so ausgelegt werden, daß auch Flüchtlinge aus Kriegs- und Bürgerkriegsgebieten unter den Schutz dieser internationalen Konvention fielen. Solange dies aber nicht der Fall ist, müßte für Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge ein eigener Status gefunden werden, der sogenannte Status B. Dieser Status B gäbe diesen Menschen einen zumindest zeitlich begrenzten Schutz und beließe ihnen die Möglichkeit, so lange in dem Aufnahmeland zu bleiben, bis in der Heimat wieder Verhältnisse hergestellt sind, die ihnen eine gefahrlose und menschenwürdige Rückkehr ermöglichen. Dies wäre eine politische, eine rechtspolitische Aufgabe, die es derzeit zu lösen gälte.

Eine andere Gruppe von Flüchtlingen, die ebenfalls nicht anerkannt werden, macht offenbar der Bevölkerung am meisten Sorgen: Das sind die Armutsflüchtlinge, deren Zahl sicherlich in den nächsten Jahren noch steigen wird. Sie werden gern «Wirtschaftsflüchtlinge» genannt und damit schon von vornherein diskriminiert. Was soll mit diesen Menschen geschehen?

Flüchtlinge, die ihre Heimat zwangsweise verlassen, weil ihre Existenz nicht mehr gesichert ist, sind zumeist auch Menschen, die einer Minderheit oder einer sozialen Gruppe angehören, die in den jeweils herrschenden Verteilungskämpfen diskriminiert und unterdrückt wird. Es ist wichtig, den Zusammenhang zu sehen zwischen Armut, politischer Unterdrückung, Verlust von Rechten und Flucht. So können wir sagen, daß Menschen in größerer Zahl dann flüchten, wenn in ihrem Heimatland aufgrund der wirtschaftlichen Verhältnisse Verteilungskämpfe toben, bei denen Mehrheiten und Machteliten die Minderheiten nicht voll und ganz und in gerechter Form an den wirtschaftlichen Möglichkeiten teilnehmen lassen. Zumal dann in solchen krisenhaften Situationen immer wieder Sündenböcke gesucht werden, und die werden immer gefunden in ethnischen, glaubensmäßigen oder sonstigen Minderheiten. Das heißt also, den Armutsflüchtling gibt es eher in der Definition als in der Realität. Derjenige, der flieht, um seine materielle Existenz zu sichern, ist zumeist auch der, der in der Herkunftsnation unter dem besonderen Druck steht wegzugehen, weil er keinerlei Perspektive hat und keinerlei Hoffnung haben kann, bei der Verteilung der Zukunftschancen entsprechend berücksichtigt zu werden.

Wenn wir andererseits zu viele Ausländer aufnehmen, erregt das offenbar in breiten Schichten der Bevölkerung Angst. Es ruft auch auf der untersten gesellschaftlichen Ebene eine Konkurrenzsituation mit den Flüchtlingen um billigen Wohnraum und um Arbeitsplätze hervor. Was ist zu tun?

Eine der soziologischen Erfahrungen ist die, daß Fremdenangst gerade auch dort entsteht, wo überhaupt keine oder kaum Ausländer sind und wo gar keine Kontakte mit Ausländern bestehen. D. h. also, die Fremdenangst hat eine bestimmte sozialpsychologische Funktion, die, wie wir es ja erlebt haben, politisch instrumentalisiert werden kann, indem die Ängste, die sich auf die soziale und wirtschaftliche Zukunft beziehen, auf eine Minderheit abgelenkt werden, auf die sogenannten Sündenböcke. Wie Menschen aus verschiedenen Nationen und verschiedenen Religionen zusammenleben können, das zeigt sich im Grunde in der Bundesrepublik, wenn ich von den Ausschreitungen gegen Fremde absehe. Nehme ich nur einmal das Beispiel Frankfurt, wo mindestens ein Viertel der Menschen nichtdeutscher Herkunft ist: Wenn dort kein Klima der Fremdenfeindlichkeit erzeugt wird, bzw. wenn dort in einer vernünftigen Weise für ein Zusammenleben geworben wird, dann gibt es kein prinzipielles Problem zwischen Deutschen und Ausländern. Soziale Probleme entstehen zwischen den einzelnen sozialen Schichten im Hinblick auf die Wohnungsnot, die Arbeitssuche oder im Hinblick auch auf die sonstige soziale Versorgung.

Was könnten und müßten wir zur Bekämpfung der Fluchtursachen in den Herkunftsländern tun?

Es gibt ein Faktum, das jeden, der sich mit der Bekämpfung der Fluchtursachen befaßt, erschrecken muß, daß nämlich in der Bundesrepublik der Anteil der Entwicklungshilfe am Bruttosozialprodukt gesunken ist. Es gibt eine Empfehlung der Vereinten Nationen, daß jeder Staat 0,7% - nur - seines Bruttosozialproduktes, also dessen, was er erwirtschaftet an Dienstleistungen und Gütern, zur Verfügung stellt für eine effektive Entwicklungshilfe. Diesen minimalen Prozentsatz hat die Bundesrepublik nie erreicht, er ist jetzt zurückgegangen auf 0,33%. D. h., es gibt keine echte Entwicklungspolitik. Sie wäre, auf lange Frist gesehen, die einzige Verhinderung von Flucht. Wenn also ein neuer Ansatz gewählt werden sollte, um Flucht zu verhindern, dann an der Stelle, wo der Bevölkerung deutlich gemacht wird: Wir haben zwar die Kosten der Einheit zu tragen, aber das darf nur ein Teil der Aufgabenstellung sein, die wir auf die gesamte Welt hin haben. Entwicklungshilfe, wenn sie überhaupt in diesem Weltwirtschaftssystem funktioniert, müßte um das Mehrfache gesteigert werden: Ich würde sagen, statt 0,33% des Bruttosozialproduktes müßte es das Zehnfache sein, und das wären dann erst 3%, aber dies wäre ein Ansatzpunkt, über den sich reden ließe, wenn es darum geht, Flucht von Menschen zu verhindern.

Produziert nicht auch unser intensiver Waffenhandel, der die Bundesrepublik auch reich macht, Fluchtursachen in den Herkunftsländern: Bürgerkriege, Kriege beispielsweise?

Sicher ist der Waffenexport mit schuld daran, daß in Krisengebieten Krieg geführt werden kann. Aber daß es zu einer kriegsträchtigen Situation kommt, hat noch tiefere Gründe, die damit zusammenhängen, daß gerade auch die Länder, die Krisenherde sind, auch zumeist Länder sind, die um das wirtschaftliche Überleben kämpfen und dabei auf dem Weltmarkt mit ihren Produkten immer nur die bescheidensten und untersten Preise erzielen können. Anders gesprochen, bedeutet es, daß unsere Weltwirtschaftsordnung, die es den Reichen ermöglicht, im Sinne eines hemmungslosen Kapitalismus die Preise zu diktieren, auch Mitursache ist dafür, daß viele Länder mit ihren wirtschaftlichen Krisen nicht zurechtkommen. Die Machteliten sehen auf Dauer die einzige Chance, ihren Löwenanteil zu sichern, darin, daß sie Militär einsetzen, und damit verursachen sie im Grunde auch die Fluchtbewegungen.

Die Kirchen haben sich ja in der öffentlichen Diskussion nicht einstimmig für die Belange der Asylbewerber eingesetzt. Gibt es bei den Kirchen auch so etwas wie Besitzstandsdenken, das politische Rücksichten erfordert, das aber hinderlich ist, um in der Sache eindeutige Forderungen zu stellen?

Die Asyl-Initiativen haben die ökumenische Stellungnahme der Kirchen zur Asylfrage und zur Asylpolitik als einen Rückfall betrachtet. Sie meinen sogar, daß ihnen die Kirchen in einer zentralen Frage der Humanität in den Rücken gefallen sind. Bei einer Analyse dieser Situation könnte man vielleicht sagen, daß die Kirchen, ähnlich wie die Parteien, auch Mehrheitsinteressen vertreten, und diese Mehrheitsinteressen zielen darauf ab, die Bundesrepublik und Europa im Wesentlichen abzuschotten, und zwar in dem Sinne, daß das, was wir erreicht haben an Konsum, an Wirtschaftskraft, an allen sonstigen Lebensmöglichkeiten, an der Inanspruchnahme der eigentlich der ganzen Menschheit zur Verfügung stehenden Ressourcen, daß dies alles gesichert werden muß. Und Flüchtlinge in größerer Zahl könnten dies vielleicht in Frage stellen. Obwohl bei einer nüchternen Betrachtung klar ist, daß die Flüchtlinge selbst in der bisherigen Größenordnung niemals diese Republik mit ihren wirtschaftlichen Möglichkeiten in Frage stellen können. Dahinter steht aber die irrationale Angst, daß mit den Flüchtlingen die Anfrage an unsere Gesellschaft, auch an die Kirchen, gestellt ist, in einer Form zu teilen, die weit über das hinausgeht, was bisher im Rahmen von Sammlungen oder bescheidener Entwicklungshilfe geleistet worden ist. Anders ausgedrückt: Jeder weiß, wenn er sich ernsthaft mit der Frage befaßt, daß ein Teilen ansteht, das unseren Konsum, unseren Verbrauch von Energie und alles andere auf etwa 50% des jetzigen einschränken würde, einschränken müßte. Jeder weiß, daß dies notwendig ist, aber es ist politisch wohl nicht durchsetzbar. Die Kirchen gehen mit solchen Forderungen auch nicht an die Öffentlichkeit, sondern sie schließen sich zu einem Kartell zusammen, das im Grunde Teilen nur in bescheidener Form akzeptiert, nicht aber die Bereitschaft mit einschließt, Entscheidendes an den ärmeren Teil der Menschheit abzugeben. Die Flüchtlinge geraten in dieser Situation in die Rolle von Sündenböcken. Sie sind die Botschafter für eine andere Weltwirtschaftsordnung, und weil diese Botschaft nicht akzeptiert ist und weil es eine sehr kritische Botschaft ist, müssen sie dafür herhalten.

Was können christliche Gemeinden und Einzelne heute tun? Ich nenne u. a. das Stichwort «Kirchenasyl».

Wenn die Einschätzung richtig ist, daß bei einer veränderten Rechtslage durch die praktische Abschaffung des Grundrechts auf Asyl nach wie vor Menschen in die Bundesrepublik kommen werden, werden sie dies in einem sehr viel stärkeren Umfang als „Illegale" tun müssen, also als Menschen, die von der Polizei aufgespürt werden sollen, und die - das ist ja in den neuen Beschlüssen der großen Bonner Koalition enthalten - schneller abgeschoben werden sollen. D. h. einzelne Menschen und Gruppen, auch Gemeinden, werden sehr viel stärker als bisher herausgefordert, diese Menschen zu schützen, vielleicht auch durch das Kirchenasyl, für das es keine eigentlich rechtliche Möglichkeit gibt. Es könnte aber im Rahmen der Geschichte des Asyls doch eine wichtige Funktion erhalten. Die Form, Menschen durch das Kirchenasyl zu schützen, wird künftig wahrscheinlich von größerer Bedeutung werden, wird aber auch dahin führen, daß innerhalb der Kirchen eine intensivere Diskussion über die Aufgabe von Kirche gegenüber Flüchtlingen geführt werden muß, d. h. über die Aufgabe der Kirche hinsichtlich der Wahrung der Menschenwürde und der Humanität.

veröffentlicht in: Johanna Jäger-Sommer (Hrsg.), Asyl, Fremde in der Festung Europa, Zürich 1993, SS: 37-46