Herbert Leuninger

ARCHIV ASYL1995

DIE GESCHLOSSENE HERBERGE UND DER OFFENE STALL


INHALT
Die geschlossene Herberge und der offene Stall sind zwei Mythen, die miteinander rivalisieren. Es ist daher nicht ungefährlich für unsere abgeschottete Republik und ihre Asylpolitik Weihnachten zu feiern. Die kollektive Seele ist in dieser Zeit für den Einfluß der Mythen ziemlich offen.

Im Augenblick befinden wir uns im Ausnahmezustand: die Politik ruht, es herrschen die Mythen: Der Mythos vom Licht in der Dunkelheit, vom immergrünen Baum, vom Mädchen, das ohne Blutverlust gebiert, von dem Mann, der mit der Geburt nichts zu tun hat und schützend daneben steht, vom wiederkäuenden Ochsen, dem engen Verwandten der heiligen Kühe Indiens, vom Esel, der die flüchtende Mutter mitsamt dem Baby nach Ägypten trägt und zum Urbild aller "Schlepper" wird, und von den Astrologen, die die Sternstunde der Menschheit berechnet haben und zur rechten Zeit, am rechten Ort dem richtigen Herrscher huldigen.

Alles Mythen, an die nur noch wenige glauben, die uns aber im Unterbewußtsein beeinflussen. Der Grund dürfte darin zu sehen sein, daß sie für unseren Kulturkreis an einen paradiesischen Ur- und Endzustand erinnern.

Ob man Bethlehems Herberge, die wegen angeblicher Überfüllung geschlossen war, und den Stall, in dem das Paar Unterschlupf fand, auch den alten Mythen zuordnen darf, ist fraglich. Erscheinen doch diese Elemente der Weihnachtsszene ziemlich wirklichkeitsnah, und sind damit auf den ersten Blick eher mythosfern. Es ist relativ leicht sie auf unsere Zeit zu übertragen, etwa auf die Asylpolitik. Sollte ihnen allein deswegen Macht und Glanz des Mythos abgehen?

Die kürzliche Anhörung vor dem Bundesverfassungsgericht über das Asylrecht könnte uns eines anderen belehren. Sie war in jeder Hinsicht ungewöhnlich und irgendwie mythenschwanger. Die Bundesregierung war überraschenderweise den dort seit geraumer Zeit anhängigen Asylverfahren beigetreten, wohl um die öffentliche Diskussion vor dem obersten Gericht zu erreichen. Ursprünglich auf zwei Tage angesetzt, verlängerte das Gericht die Anhörung um zwei weitere Tage. Wann hätte es das schon einmal gegeben? Bundesinnenminister Manfred Kanther erwies sich als das aufmerksamste Regierungsmitglied, das sich vorstellen läßt. Dreieinhalb Tage verfolgte er mit gespanntem Gesichtsausdruck die Anhörung, an der er sich auch mit Grundsatzerklärungen beteiligte. Zuhörer, die auf eine Änderung des Asylrechts hofften, zeigten sich von diesem Verhalten beeindruckt, aber auch von der Verhandlungsführung Jutta Limbachs, der Präsidentin des Bundesverfassungsgerichtes.

In diesen vier Tagen konkurrierten zwei Mythen miteinander: der Mythos von der geschlossenen Herberge oder die Drittstaatenregelung und der Mythos des offenen Stalls oder das Grundrecht auf Asyl. Dieses steht dem Wortlaut nach zwar noch in der Verfassung, ist aber durch die Einführung der Deutschland umgebenden "sicheren Drittstaaten", durch eine Liste "sicherer Herkunftsstaaten" und nicht zuletzt durch ein arg beschleunigtes Flughafenverfahren schwer in Mitleidenschaft gezogen. Kanther gibt sich im Gerichtssaal als der äußerst besorgte Herbergsvater. Ihn plagt die Angst, er müßte nach einem entsprechenden Urteil des Verfassungsgerichts, die Türe zu seiner Unterkunft um einen Spalt breit öffnen und Flüchtlingen, wenn sie an der Grenze Einlaß begehren, wenigstens erst einmal zuhören. Nach seiner Sicht ist die Herberge Deutschland längst mit Flüchtlingen überfüllt und er sieht sich im Recht, wenn er Türen und Fenster mit aller Kraft zuhält. Die überfüllte Herberge, das ist sein Mythos. Für diesen Mythos spricht nicht nur die Haltung des Heimbetreibers von Bethlehem, sondern auch die Zweidrittelmehrheit des Bundestages und die Einstellung der Regierungen in der Europäischen Union.

Es gibt aber auch den Mythos des offenen Stalls, in dem sich Menschen und Tiere drängen und überdies Engelsgesang ertönt. Diesem Mythos fühlen sich die in Karlsruhe anwesenden Anwälte der Flüchtlinge und die Menschenrechtsverteidiger verpflichtet. Es ist auch der Mythos, der hinter dem Kirchenasyl steht. Die Grundrechtshüterinnen und -hüter von Karlsruhe haben es schwer. Sie dürfen zwar keinem Mythos Rechnung tragen, sondern müssen Recht sprechen; aber auch Recht wird gewiß nicht ohne den Einfluß von Mythen gesprochen. Die Konkurrenz der Mythen spaltete auch das Richterkollegium. Es kommt also auch darauf an, welcher Mythos sich als der stärkere erweist. Anfänglich sammelte der Herbergsmythos die Punkte. Am vierten Tag der Anhörung aber konnte der Stallmythos seine Macht entfalten, vor allem, als Verfassungsrichter Böckenförde den Fall einer iranischen Mutter einführte. Sie war mit ihren zwei Kindern über die Tschechische Republik - also einem "sicheren Drittstaat" - nach Deutschland eingereist. Hier wurde ihr das Asylverfahren mit der Begründung verweigert, sie hätte bereits im Nachbarland Zuflucht suchen müssen. Nach ihrer Abschiebung wurde ihr dort aber das Asylverfahren mit dem Hinweis verweigert, sie sei in Deutschland abgewiesen worden. Sie wurde aufgefordert, das Land binnen fünf Tagen zu verlassen, sonst werde sie in den Iran abgeschoben. Die Frau kam erneut in die Bundesrepublik, wo ihr das Asylverfahren wiederum verweigert wurde. Ihre erneute Abschiebung wurde vom Bundesverfassungsgericht im letzten Augenblick gestoppt - die Frau saß mit ihren zwei Kindern bereits im Bus in Richtung Tschechische Republik!

Die geschlossene Herberge und der offene Stall, wohl doch zwei Mythen, die miteinander rivalisieren? Die christliche Botschaft des Weihnachtsfestes lautet nun: Dem unverschlossenen Viehunterstand gehört die Sympathie Gottes. Der Heuschober ist die zukunftsweisende Stätte für das Heil der Menschheit. Damit wird der offene Stall zum wirkmächtigeren Mythos erklärt. Zumindest ist es ein Mythos, der auch in der Asylpolitik für Unruhe sorgt. Es ist daher nicht ganz ungefährlich für unsere abgeschottete Republik Weihnachten zu feiern. Die kollektive Seele ist in dieser Zeit für den Einfluß der Mythen ziemlich offen. Im Ringen um diese Seele hat 1993 zwar der Mythos der geschlossenen Herberge gewonnen, ob das aber in 1996 so bleibt, ist fraglich. Immerhin baut der designierte Bundesjustizminister Edzard Schmidt-Jorzig (FDP) schon für den Fall vor, daß das Bundesverfassungsgericht das jetzige Asylrecht für verfassungswidrig erklären sollte. Am liebsten möchte er den individuellen Anspruch auf Asyl ganz beseitigen. Das bedürfte aber wieder einer Zweidrittelmehrheit im Bundestag. Der Minister in spe richtet sich darauf ein, mit dem alten Asyl-Artikel 16 zu leben, wenn dieser mit einer strikten Einzelfallprüfung verbunden wird. Die Mythen ringen miteinander!


Artikel in: FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG vom 24.12.1995