Herbert Leuninger

ARCHIV KIRCHE
1971-1975

1971 - 1975
Buchbesprechungen
kath. Theologie und Kirche

HESSISCHER RUNDFUNK
Frankfurt/Main
2. Hörfunkprogramm (HR2)
Redaktion: Norbert Kutschki

INHALT


Buchbesprechung 1971


Waldemar Molinski
Zölibat morgen
Recklinghausen, 1970, 88 Seiten

Das Büchlein von Waldemar Molinski "Zölibat morgen" aus dem Georg Bitter Verlag kann vornehmlich Bischöfen und Theologen empfohlen werden, denen es schwerfällt, ihre Wertschätzung des Zölibates mit der Vorstellung eines verheirateten Klerus zu verbinden; denn Molinski ist davon überzeugt, daß der Zölibat als eine spezielle christliche Berufung seinen Wert auch in Zukunft behält. Dennoch, ja gerade deswegen, erscheint es ihm geraten, ihn aus der starren Koppelung mit dem priesterlichen Amt zu lösen, ohne deswegen seine Angemessenheit für den Priester zu bestreiten.

Um zu dieser Einstellung durchzudringen, bedarf es aber einer theologischen Nachbesinnung, die vor allem dadurch angeregt wird, daß Ehe und Sexualität in der Kirche mittlerweile positiver gewertet werden, und daß sich das Verständnis des Priesteramtes gewandelt hat. Während die Ehe stärker als personale Liebesgemeinschaft gesehen wird, und man der Sexualität einen beachtlichen Stellenwert für die menschliche Erfüllung beimißt, unterstreicht das heutige Glaubensverständnis beim Priester mehr seine Dienstfunktion als seine herausgehobene und durch den Zölibat betonte Stellung.

Diese Veränderung im heutigen Bewußtsein hebt für Molinski die Bedeutung des biblischen Rates zur Jungfräulichkeit nicht auf. Dieser Rat - jetzt wörtlich - "richtet sich an denjenigen, der durch den endzeitlichen Anbruch des Himmelreiches in Christus, durch den Einbruch der den Menschen zugedachten absoluten Zukunft in diese Zeit, derartig ergriffen wurde, daß ihm das Diesseits einschließlich der konkreten geschlechtlichen Verfaßtheit des Menschen und einschließlich der Ehe in seiner Vorläufigkeit und in seiner Ambivalenz in einem ganz neuen Licht erscheint und er in der Folge davon ungeteilt - unter Zurücksetzung der Sorge um weltliche Dinge - um die Sache des Herrn besorgt ist."

Daß eine solche Ergriffenheit, wenn es sie heute noch gibt, der Leitungsfunktion in einer christlichen Gemeinde angemessen ist, wird niemand ernsthaft bestreiten können. Diese besondere Berufung aber als ausschlaggebendes Merkmal für eine Eignung zum Leitungsdienst anzusehen, und dies mit all der Macht kirchlicher Autorität durchsetzen zu wollen, hält Molinski nicht oder nicht mehr für gerechtfertigt. So schreibt er zum Schluß:

"Will die Kirche für die Menschen des aufkommenden Zeitalters in überzeugender Weise das Zeugnis der Liebe und der Freiheit und somit der in echtem und vollem Sinne freien Liebe geben, nach dem unsere Welt so sehr hungert, muß sie nicht nur deutlich machen, daß diese Liebe zunächst einmal Geschenk ist, Antwort auf die Liebe Gottes, der uns zuerst geliebt hat, und nur so zur wahrhaft verantwortlichen Liebe heranreift; sie müßte gerade auch bei ihren Priestern darauf bedacht sein, daß ihr Leben ein Zeugnis solcher im vollen Sinne freien und verantwortlichen Liebe ist. Sie dürfte nicht diejenigen vom priesterlichen Dienst ausschließen, die sie für ihn benötigt und die zu ihm voll geeignet und gewillt sind. Sie müßte dafür sorgen, daß ihre Autorität nicht durch ihre Macht und durch ihre Ausübung von Zwang Schaden leidet und der Welt bezeugen, daß Macht und Zwang wirklich nur in dem Umfang ausgeübt werden müssen, wie sie der Durchsetzung des durch sich selbst ausweisenden Wertes dienen und dafür unerläßlich sind.....

Die Freistellung des Zölibates in der beschriebenen Weise würde so den um des Himmelreiches willen Ehelosen und den Verheirateten, dem Presbyteramt, der Kirche und der Welt zum Vorteil gereichen."


Buchbesprechung 10. April 1971

Rupert Lay
ZUKUNFT OHNE RELIGION?
Die Welt vermenschlichen?
Ein Problem für den Marxismus und das Christentum
Olten, Freiburg, 1970, 203 Seiten

Eine Zukunft ohne Religion kann sich Rupert Lay nur als eine grausige Möglichkeit vorstellen, bei der der Mensch in seinem Suchen nichts anderes mehr findet als sich selbst. Hoffnungslos, neurotisiert, eindimensional konsumorientiert, in seinem Erbgut manipulierbar wird der Mensch „diese Welt zur Hölle machen oder sie zerstören". Lays Vision geht auf eine menschliche Welt, die religiöser Natur ist. Er zitiert Teilhard de Chardin, der 1952 in einem Brief geschrieben hatte: „Tatsächlich ist unser Jahrhundert wahrscheinlich religiöser als alle anderen….Nur hat es noch nicht den Gott gefunden, den es anbeten könnte."

Der Gott der bisherigen Religiosität hat sich im Laufe der Jahrtausende abgenützt. Er ist zu sehr ein Gott des Jenseits gewesen. Daran hat auch das Christentum wenig geändert. Lay bezeichnet sogar die mit dieser Gottesvorstellung verbundene Trennung von Diesseits und Jenseits als die „folgenschwerste Häresie des Christentums". Die Welt sei damit zu einer entgotteten und schlechten Welt geworden. Das religiöse Handeln habe sich folgerichtig nicht auf die Veränderung der Welt sondern auf die Ablösung von ihr eingestellt. Die Diesseits-Jenseitskategorie führt Lay, insofern sie Raumvorstellungen einschließt, auf Vorstellungszwänge zurück, die von unseren Affenahnen stammen und die es allmählich zu überwinden gilt.

Der Gott der Christen ist kein jenseitiger Gott, sondern der Gott dieser Welt. Der Himmel ist nicht das Jenseits, „sondern das in Gottesreich verwandelte `Diesseits´". Der Mittelpunkt der Predigt Jesu ist die Botschaft vom Gottesreich, als der Welt, die voll erlöst ist und die den Höhepunkt ihrer Evolution erreicht hat. Daher wird das Versagen der Christen an dieser Welt zu einem Versagen am Gottesreich.

Lay, der Marx den größten Humanisten der Neuzeit nennt, dankt dem Marxismus dafür, daß er das Christentum von vielen falschen Idealen befreit habe. Vor allem werde durch ihn die ärgste und laxeste Häresie des Christentums, nämlich die von den zwei Welten als Entfremdung entlarvt. Inzwischen haben die Christen von den Marxisten, wie überhaupt von den Atheisten einiges gelernt. Dazu gehört die Fähigkeit, wieder eine große Hoffnung zu haben, nachdem die landläufige Eschatologie mehr Angst als Freude geweckt hatte. Weiterhin hat der Atheismus neuerer Prägung dazu beigetragen, den Heilsindividualismus zu überwinden. Heil ist keine Privatsache mehr, sondern wird nur in Gemeinschaft erreicht und erfüllt. Nicht zuletzt hat die Christenheit in der Auseinandersetzung mit den verschiedenen Atheismen ihre Verantwortung gegenüber der Welt neu entdeckt.

Die neue Welt, das unüberholbare Reich kommt aber nach Rupert Lay niemals durch die Kunst des Menschen, sondern „nur durch Gnade, nur durch Realisation der göttlichen Liebe." Diese Überzeugung hätten die Christen in den heutigen Wandlungsprozeß einzubringen.


Buchbesprechung 3. August 1971

Ignacio Escribano-Alberca
DAS VORLÄUFIGE HEIL
Zum christlichen Zeitbegriff
Düsseldorf, 1970

Müssen wir an den Ursprung der Menschheit zurückgehen, um das Paradies als Inbegriff der Heilszeit zu finden? Liegt es vielleicht überhaupt nicht in der Vergangenheit, sondern im gegenwärtigen, aber erfüllten Augenblick? Oder gehen wir ihm erst am Ende der Tage entgegen? Man sollte meinen, das Christentum habe auf diese Fragen eine eindeutige Antwort gegeben! Dem ist nicht so, wie der in Deutschland lehrende Spanier Ignacio Escribano-Alberca in einem schmalen Bändchen mit dem Titel "Das vorläufige Heil" nachweist.

Unter dem Gesichtspunkt, wie das vollendete Heil auf die Zeit bezogen wird, gibt es für den Autor in der Theologie drei Fehlformen:

Es gibt zunächst die Theologen in den ersten christlichen Jahrhunderten, die sich der Vergangenheit zuwenden; mit der griechischen Philosophie teilen sie die Vorstellung von der heilen Welt, in der die Seelen in der Urzeit lebten. Der Mensch kann sein Heil nur erlangen, in dem er sich an den Anfang zurückversetzt. Tod und Auferstehung des Herrn als die Urtatsachen der Christen verbürgen nicht nur das Heil, sie stellen es voll und ganz dar. In der liturgischen Feier wird es dem Gläubigen möglich, an diesen Ursprung zurückzukehren.

Anders ist es bei einer Theologie, die das "Paradies" in die Gegenwart verlegt. Der von mir erfaßte Augenblick, in dem ich vom Worte Gottes betroffen werde, schließt in sich die Fülle des Heils. Als wichtigsten Gewährsmann für diese Auffassung zitiert Escribano Bultmann, bei dem es heißt: "In jedem Augenblick schlummert die Möglichkeit, der eschatologische Augenblick zu sein. Du mußt ihn erwecken." Damit ist die Gegenwart in unerhörtem Maße radikalisiert.

Die jüngste Theologie ist ihrerseits sehr stark auf die Zukunft eingestellt. Hier hält sich Escribano vornehmlich an Moltmann, auch an Metz. Danach leben wir in einer schlimmen Welt, die aber gemäß der Verheißung in die vollendete Gotteswelt einmünden wird. Die Aufgabe des Christen besteht darin, die geschaffene Welt auf die neue Schöpfung hinzuführen.

Escribano sieht in den drei aufgezeigten Positionen eine Verfälschung des Glaubens, der eschatologisch ausgerichtet ist. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft müssen für den Christen so in Beziehung zueinander gebracht werden, daß das "Schon" der Erlösungstat Christi mit dem "Noch nicht" der ausstehenden Vollendung verbunden bleibt. Zweimal wird das Bild Oscar Cullmanns erwähnt, daß die Entscheidungsschlacht zwar schon geschlagen der Tag des endgültigen Sieges aber noch nicht gekommen sei.

Wer dem Verfasser auf seinem anspruchsvollen Gang bzw. schneidigen Ritt durch die Gefilde der Theologie folgt, wird viele interessante Einsichten gewinnen. Dennoch mag ihn ein leichtes Unbehagen erfassen, wie schnell große Theologen ausgemustert werden, auch wenn es im Unterschied zu früheren Zeiten etwas kollegialer geschieht. Außerdem wirkt die vorgetragene eigene Position vom Exegetischen her etwas kurzatmig.


Buchbesprechung 27. Oktober 1971

Felix Schlösser (Hrsg.)
Was bleibt vom Worte Gottes?
Glaubensverkündigung in neuer Sprache
Limburg, 1968, 192 Seiten

"Die Frage schlägt in den gemeinsamen Antwortbesitz ein dickes Loch," behauptet Hans-Dieter Bastian, der ein ganzes Buch über die Theologie der Frage geschrieben hat. Den eben zitierten Satz hat er auf einer Tagung wiederholt, die sich ihrerseits die Frage gestellt hatte: "Was bleibt vom Wort Gottes?" Liest man die Antwort, die Josef Blank im Einleitungsreferat darauf gibt, muß man wirklich an ein Loch denken, nicht nur an ein dickes sondern vielmehr an ein schwarzes. Denn Blank sagt: Vom Worte Gottes bleibt nichts übrig." Das kann er solange aufrecht erhalten, als er die Bibel mit den Augen der kritischen Bibelwissenschaft liest. Für diese findet sich nichts direkt und unmittelbar Göttliches. Sie will die Bibel als menschliches Dokument ernst genommen wissen. Auf diesem Hintergrund ist auch erst die Frage der Tagung zu verstehen, die Blank umformuliert: "Wo und wie begegne ich unter den Voraussetzungen moderner historisch-kritischer Exegese, die den radikal menschlichen. Charakter der Bibel aufgewiesen hat, dem Wort Gottes?" Die Antwort gibt die kritische Wissenschaft selbst, insofern sie feststellen muß, daß die biblischen Geschichten Dimensionen erschließen, die über das geschichtlich Faßbare weit hinausgehen. Es kommt dem biblischen Denken darauf an, die gesamte Wirklichkeit in der Beziehung auf Gott hin zu verstehen. "Vom Wort Gottes reden heißt deshalb, von der Wirklichkeit reden."

Bedarf es aber einer besonderen Sprache, um sachgerecht von dieser Wirklichkeit zu reden? Während Kurt Frör in seinem Beitrag darauf besteht, daß die Bibel ein menschliches Buch sei, in dem die Menschwerdung Gottes ohne falsche Verklärung geschehen sei, plädiert Werner Betz in Sachen Religion für eine Art Fachsprache. Er sagt: "Wenn im Bereich des Religiösen eine ausgesprochen religiöse Sprache sich einmal entwickelt hat, sollte man sie auch anwenden." Er sucht das an einigen Beispielen und Textvergleichen von 10 verschiedenen Übersetzungen zu erhärten. Vielleicht versteht man Betz aber erst richtig, wenn man seinen sprachwissenschaftlichen Ansatz kennt.

Danach ist die Sprache ein Instrument der Verständigung, das als Instrument behandelt und gebraucht werden kann. Man muß sich seiner Grenzen und Möglichkeiten bewußt bleiben. Das gilt auch für die religiöse Sprache. So wichtig hier die Wahl der Sprachmittel ist, wichtiger ist die religiöse Wirklichkeit, die die Sprache trägt.

Jede Sprache, so sieht es Bastian aus einem, anderen Blickwinkel, hält ein Repertoire von Antworten bereit. Er befürchtet nur - und hier liegt vielleicht ein Gegensatz zu Betz - daß die Kirchen auf alte Antworten abonniert sind. Dagegen setzt er die These, daß das Gleiche immer nur in der Veränderung erhalten bleiben kann.

Leider informiert das besprochene Buch, das noch weitere Beiträge enthält, nicht darüber, ob diese verschiedenen Positionen hinsichtlich einer angemessenen Sprache zur Diskussion standen. Es bleibt ein Loch!


Buchbesprechung 1972

Gaston Richolet
KIRCHE DEINE HEILIGEN
Würzburg, 1971, 192 Seiten

Wie wir von vielen Meistern des Mittelalters, die in frommem Geist ihre Tafelbilder malten, die Namen nicht kennen, so bleibt in unseren Tagen ein Theologe ungenannt, der unter dem Pseudonym Gaston Richolet seine "Heiligenbildchen" zeichnet, biographische Miniaturen großer Christen. Ist es sein unzeitgemäßes Heimweh nach den Heiligen und ihrer Verehrung, was den Verfasser hindert sich nennen zu lassen? Oder versteckt sich der Autor hinter einem falschen Namen, weil er wegen der ironischen bis sarkastischen Kritik an einem einseitigen katholischen Heiligenkult um seine Reputation als theologischer Schriftsteller fürchtet? Vielleicht ist es beides. Jedenfalls wirkt bereits der Titel des Büchleins "Kirche, deine Heiligen" wie der ambivalente Seufzer eines Menschen, der trotz kritischer Distanz zu vielen Phänomenen der Heiligenverehrung sich eine tiefe Beziehung zu den vorbildlichen Gestalten der Kirchengeschichte bewahrt hat.

"Was ist menschlicher", so verteidigt er die Heiligenverehrung, "als die Toten zu ehren? Welches Volk möchte sich erlauben seine großen Toten zu ignorieren? Jeder hält es für richtig und förderlich, daß sie in Denkmälern, Schriften, Reden und Gedenktagen unter uns fortexistieren."

Diese Auffassung hindert Richolet nicht daran, den überlieferten - wenn auch jetzt arg zusammengestrichenen - Heiligenkathalog ideologiekritisch zu durchleuchten. Aus der Tatsache, daß die kirchliche Hierarchie der Päpste, Kardinäle, Bischöfe und Äbte zahlenmäßig stark vertreten ist, entsteht die Frage, ob sich die kirchlichen Machtstrukturen nicht allzu sehr mit dem Nimbus der Heiligkeit umgeben haben. Demgegenüber sind nicht nur die Frauen, zumal die verheirateten, schlecht repräsentiert, sondern einfachhin die überwältigende Mehrheit des Kirchenvolkes.

Wenn die Heiligen Inbegriff christlicher Ideale sind, sollten wir uns auch nach heutigen Heiligen umsehen. Richolet nennt entsprechende Namen, wie Charles de Foucauld, den Gründer der Gemeinschaft der Kleinen Brüder und Schwestern Jesu, Alfred Delp, den von den Nationalsozialisten hingerichteten Jesuiten, Pfarrer Bonhoeffer, dem das gleiche Schicksal widerfuhr, Albert Schweitzer, Mahatma Gandhi, oder als Leitbilder für die moderne Jugend Camilo Torres und Che Guevara. Wenn der Autor ihnen keine Chance einräumt, im üblichen Sinne heiliggesprochen zu werden, liegt hier vielleicht die härteste Kritik an einer überholten Heiligenverehrung.

Als besonderer Verehrer des schelmischen römischen Heiligen Philipp Neri spart Richolet nicht mit geistreichen und parodistischen Seitenhieben auf überzogene kirchliche Äußerungen Heiliges und Heilige betreffend. Als Persiflage bringt er die Aufzählung der Zuständigkeiten zahlloser Schutzheiligen, ruft zu einer Liga für die Heiligen (Liga pro sanctis) auf und zitiert als Blütenlese Liedtexte aus neuen Gesangbüchern. Ein doppelbödiger Appell an die Heiligen schließt folgendermaßen: " Ihr Charismatiker, steht uns bei im Ringen mit einer Kirche der Beamten und Bürokraten, die alle Regungen des Heiligen Geistes unterdrücken wollen! Ihr Vorläufer eurer Zeit, laßt nicht zu, daß die Kirche ins Hintertreffen gerate! Heiliger Peter und Paul, stürzt endlich die römische Kurie! Ihr Völker, hört die Signale!"


Buchbesprechungen 1. August 1972

Manfred Enkrich und Adolf Exeler (Herausgeber),
KIRCHE KADER KONSUMENTEN
Zur Neuorientierung der Gemeinde,
Mainz, 1971, 147 S.

Norbert Wetzel,
Das Gespräch als Lebenshilfe,
Innsbruck/Wien/München, 1972, 175 S.

Josef Goldbrunner,
Seelsorge - eine vergessene Aufgabe,
Freiburg/Basel/Wien, 1971, 190 S.

Wybe Zijlstra,
Seelsorge-Training,
Clinical Pastoral Training
München/Mainz, 1971, 188 S.

Howard J. Clinebell,
Modelle beratender Seelsorge,
München/Mainz, 1971, 287 S.

Joseph W. Knowles
Gruppenberatung als Seelsorge und Lebenshilfe,
München/Mainz, 1971, 201 S.

Kirche, Kader, Konsumenten - eine einprägsame Alliteration für den Titel eines Buches, das sich mit der Reform der Gemeinden befasst. Wer mit den Konsumenten gemeint ist, das bedarf keiner umständlichen Erklärung: Es handelt sich um das Gros der Gemeindemitglieder, die ihre Pfarrei als religiöse Service-Station auffassen und sie dementsprechend in Anspruch nehmen. 

Mit dem Begriff Kader sind die kirchlichen Führungskreise angezielt, die nach wie vor das Heft in der Hand haben. Ursprünglich spricht man im militärischen Bereich von Kadern. Wenn wir dieses Wort benutzen, verbinden wir damit die Vorstellung einer straff geführten Organisation. Gilt dies aber, oder darf das für die Kirche gelten? Die Antwort auf diese Frage lautet: es gilt weithin noch, aber es dürfte nicht gelten. Die starke Heraushebung der Führungskader gerade in der katholischen Kirche hat es nach Otto Betz verhindert, daß wir brüderliche Gemeinden haben. "Je wichtiger das priesterliche Amt wurde, desto mehr wurde der Laie dazu gebracht, zu einer Haltung dankbarer Passivität zu kommen. Er ließ sich seelsorglich betreuen. Von einer eigenständigen Verantwortung, einem Rederecht oder gar einer Redepflicht war nichts zu spüren" (S. 18). Dieses Phänomen ist für Betz das Kranheitssymptom Nr. 1 unserer Gemeinden.

Mangelnde Mündigkeit und Konsumhaltung auf der einen Seite, der Versuch diesen Zustand zu überwinden auf der anderen, führt zum pathologischen Phänomen Nr. 2, zu der Polarisierung in den Gemeinden. Hier setzt Karl-Wilhelm Dahm mit seinem Beitrag ein. Er stellt fest, daß "die Kommunikation, die Verständigung zwischen beiden Parteien tiefgreifend gestört (ist)" (S. 45). Daran kann auch die Predigt kaum etwas ändern. Nach den Erkenntnissen der Kommunikationsforschung trägt sie im wesentlichen nur zur Bestätigung vorhandener Vorstellungen bei. Darin unterscheidet sie sich nicht von Fernsehen, Rundfunk und Vortrag. Wenn Menschen mit unterschiedlichen Auffassungen zueinander geführt werden sollen, müssen sie auf intensive Weise ins Gespräch kommen. In Gruppen vollzogen, vermag es einseitige und unangepasste Vorstellungen und Haltungen nachhaltig zu beeinflussen.

Sind aber Kader und Konsumenten überhaupt gesprächsfähig? Der Verlauf innerkirchlicher Konfrontationen läßt es bezweifeln. Dabei zeigt sich weniger fehlender Wille zum Gespräch als vielmehr ein glattes Unvermögen. Um diesem Mangel abzuhelfen, müßte es ein regelrechtes Gesprächstraining in den Gemeinden geben. Dabei genügt es nicht, einige Kommunikationstechniken zu vermitteln. Erforderlich wäre die Hilfe, um Fehleinstellungen zu sich und seinen Mitmenschen zu verändern.

Wichtigster Ansatzpunkt für die notwendigen Veränderungen scheinen die Pfarrer selbst zu sein. Die Literatur häuft sich, die versucht, gerade sie besser zum beratenden und helfenden Gespräch zu befähigen. Von Norbert Wetzel, der selbst in der Frankfurter Telefonseelsorge tätig ist, stammt das Buch: "Das Gespräch als Lebenshilfe". Wetzel glaubt festgestellt zu haben, daß das Gespräch in der kirchlichen Arbeit an Bedeutung gewinnt. Aus seinen praktischen Erfahrungen heraus, die er mit grundsätzlichen Überlegungen zum Wesen des Gesprächs verbindet, möchte er Hilfen für das Gelingen der seelsorgerlichen Aussprachen bieten. "Denn", so schreibt er, "die Fähigkeit des Seelsorgers zum Gespräch ist nicht selbstverständlich. Vielmehr klagen Ratsuchende, die sich an einen Priester gewandt hatten, oft darüber, dieser habe keine Zeit für sie gehabt, bzw. sie fühlten sich nicht von ihm verstanden".

Eine in unserem Zusammenhang wichtige Passage des Buches ist der geforderten Grundhaltung des Seelsorgers als Berater gewidmet. Nachdem die verschiedenen Erwartungen genannt wurden, mit denen Menschen einem Seelsorger gegenübertreten - bisweilen sind es die eines mit magischen Kräften ausgestatteten Zauberers - gibt es für Wetzel nur eine Grundeinstellung, nämlich die der Brüderlichkeit. Das ist gegen eine falsche Vaterautorität gesagt, wie sie dem katholischen Priester zugesprochen wurde. Menschen sind leicht geneigt, auf einen Berater die Funktion des Vaters zu übertragen, um eigenen Entscheidungen aus dem Wege zu gehen. Damit wäre nichts gewonnen angesichts der eben beklagten Passivität in unseren Gemeinden. Allerdings weist Wetzel dem Priester eine exzeptionelle Stellung auf andere Weise zu, wenn er meint, "daß der Priester vielleicht als einziger Mensch es sich leisten kann, durch das Gespräch mit einem Ratsuchenden selbst fundamental in Frage gestellt zu werden." An diesen Satz, der aus dem üblichen Kontext heraus nicht überbewertet werden soll, seien zwei kritische Bemerkungen angefügt. Wetzel verwendet als Synonym für "Seelsorger" nur den katholischerseits üblichen Begriff "Priester". Außerdem spielt die Kirche als Gemeinde für den Hintergrund des seelsorglichen Gesprächs keine Rolle.

Dasselbe läßt sich vorweg auch für das andere Buch "Seelsorge - eine vergessene Aufgabe" sagen. Der katholische Autor Josef Goldbrunner spricht darin über die Erwartungen der Gläubigen an den heutigen Priester. Gegen den Versuch, den katholischen Priester zu entmythologisieren, stellt er die Behauptung auf: "Die Menschen brauchen ein Priesterbild, wie sie ein Vaterbild, ein Mutterbild und ein Gottesbild brauchen." Darüber ließe sich streiten, falls die Archetypenlehre C.G. Jungs nicht für evangeliumsgemäßer gehalten wird als die Theorien von Freud. Wir beschränken uns auf das, was Goldbrunner in eindrucksvoller Weise über die seelsorgliche Kommunikation sagt.

Interessant ist dabei, daß diese weithin und ausdrücklich nach dem Modell der ärztlichen Kommunikation beschrieben wird, also nach der Form, wie der Gesprächskontakt zwischen Psychotherapeut und Patient verläuft. Die Kommunikation zwischen dem Priester und dem Einzelnen vollzieht sich in verschiedenen Schichten, nicht nur in der intellektuellen. Sehr zu beachten sei die emotionale Schicht, wobei der Priester wissen müßte, wie er gefühlsmäßig auf andere wirkt. Auf den Seelsorger werde auf der archetypischen Ebene vor allem das Urbild des Priesters übertragen, wodurch das Anziehende und zugleich Fernhaltende der Heiligkeit Gottes erfahren werde. Eine wirkungsvolle Kommunikation hänge aber vor allem davon ab, daß der Priester zu einem existentiellen Kontakt bereit sei. Es ist hiermit eine Verbundenheit gemeint, die den Anspruch auf Liebe anerkennt.

Die drei noch zu erwähnenden Bücher sind von evangelischen Theologen verfaßt. Mit den beiden vorigen Autoren teilen sie die Hochschätzung des seelsorglichen Gesprächs. Ebenfalls steht bei ihnen der ordinierte Theologe im Vordergrund. Verständlicherweise sprechen sie allerdings nicht vom Priester sondern vom Pfarrer. Das bedeutet für sie, daß sie auch die Gemeinde in ihre Überlegungen miteinbeziehen.

Um die Pfarrer für ihre beratenden Tätigkeiten besser zu befähigen, gibt es eine aus den Vereinigten Staaten stammende Methode, die sich Clinical-Training nennt. Der holländische Theologe Wybe Zijlstra beschreibt sie in einem Buch mit dem deutschen Titel "Seelsorge-Training". Pfarrer begeben sich für mehrere Monate in eine psychiatrische Klinik, um unter spezieller Anleitung geistliche Gespräche mit den Kranken zu führen. Die Gespräche werden aufgezeichnet und im Kreise der anderen Beteiligten der Kritik und Auswertung unterzogen. Es geht darum, die Sensibilität des Pfarrers so zu verfeinern, daß er besser zuhören lernt. Bei fast allen Teilnehmern kommt es anfänglich zu einem großen Erschrecken, wenn sie erfahren, wie schlecht sie zuhören können. Das Zuhören wird als eine Form christlicher Entäußerung gewertet. "Im Nicht-Zuhören-Können entdecken wir, wie gottlos und demnach wie unmenschlich wir selber sind." Wer einen solchen Kurs erfolgreich abschließen kann, ist reicher an Kenntnissen über sich und die anderen geworden. "Manche versichern auch, daß ihr Glaubensleben sich vertieft hat (S. 174)".

Wenn auch nicht alle Pfarrer, die in der Beratung stehen - und welcher Pfarrer käme ohne sie aus - ein solches Training absolvieren, bleibt Ihnen die Aufgabe, die Kommunikationsfähigkeit derer zu verbessern, die sich an sie wenden. Alle Schwierigkeiten zwischen Menschen, alle seelischen Krankheiten bedeuten eine Störung der Kommunikation. Howard Clinebell, der ein Buch über "Modelle beratender Seelsorge" geschrieben hat, stellt fest, daß viele Gemeindemitglieder unfähig zu Kommunikation und Gemeinschaft sind. Ihr seelischer Zustand - wir denken an das, was Otto Betz gesagt hat - trennt mehr, als daß er eint. Sie müssen erst durch eine Therapie in den Stand versetzt werden, zur heilenden, erlösenden Gemeinschaft ihrer Gemeinde beizutragen. Bei Clinebell heißt es wörtlich: "Die mitmenschliche Atmosphäre einer Gemeinde kann durch einen wirksamen Beratungsdienst, der vom Pfarrer und ausgebildeten Laien wahrgenommen wird, wesentlich gebessert werden. So kann die Gemeinde wirklich der Ort der Versöhnung, der Heilung und des inneren Wachsens werden." (S. 10) Die Zielrichtung kirchlicher Beratung ist nach dieser Auffassung die Gemeinde, die als solche erlösende Kraft für ihre Umgebung ausstrahlt. Damit ist der Pfarrer in einem klerikalistischen Mißverständnis der Aufgabe enthoben, Erlösung im Alleingang zu repräsentieren. Auch in der Gemeinde selbst liegt die Last Kommunikation zu fördern nicht allein auf seinen Schultern. Clinebell nennt als integrierenden Bestandteil die ausgebildeten Laien.

Neben der Einzelberatung, von der bislang ausschließlich die Rede war, erwähnt Clinebell als Gesprächsmodell auch die Gruppenberatung. Sie gewinnt in der heutigen Therapie immer mehr an Bedeutung, zumal der Mensch in seinen wesentlichen Belangen gruppenbezogen ist. Vom Einzelnen hat die Beratung über die Familie zur Gruppe gefunden. Damit ist sie in eine Dimension eingetreten, die die Kirche als erlöste und versöhnte und damit als erlösende und versöhnende Gemeinschaft noch stärker herausfordert. Joseph Knowles reflektiert die neuen Erfahrungen der Gruppentherapie und Gruppendynamik im Zusammenhang mit der Kirche. In seinem Buch "Gruppenberatung als Seelsorge und Lebenshilfe" kommt er zu der ungewöhnlichen Aussage, daß eine Beratungsgruppe zu einem Gnadenmittel werden kann, "das es der Kirche erst ermöglicht, wirklich zu sein"(S. 10). Knowles ist überzeugt, daß die Lehre von der Kirche das Modell Gruppenberatung in sich birgt. Kirche ist Heilsgemeinschaft, in der der von sich und seiner Umgebung entfremdete Mensch sich selbst finden sollte.

Bei einer geglückten  Gruppensituation herrscht ein Klima, in dem sich der Einzelne angenommen fühlt. Aber auch da, wo es um das Bekennen geht, ist letztlich die Kirche als versöhnende Gemeinschaft aufgerufen. Von der Gruppe her heißt dies: "Jeder muß das mit anderen gemeinsam erarbeiten, was nicht annehmbar ist - das, was ihm das Gefühl des Ausgeschlossenseins gibt, weil er die Treue zu Gott und seiner Gemeinschaft gebrochen hat...."(S. 34). Hier wäre nach Knowles - er ist protestantischer Theologe - der Ansatzpunkt, um die Beichte wieder für die Kirche zurückzugewinnen.

Es erhebt sich natürlich die Frage, ob unsere kranken Gemeinden sich jemals zu einer solchen oder auch nur ähnlichen Sicht ihrer Funktion aufschwingen. Clinebell sieht darin kein Problem. Geradezu emphatisch sagt er: "Nie zuvor hatten wir so viele Möglichkeiten, wie sie sich uns heute durch die Erneuerung von Seelsorge und Beratung, durch die Reformbewegung in den Kirchen, durch all die erregenden Erkenntnisse der Humanwissenschaften und die neuartigen Techniken der Psychotherapie eröffnen. Wenn man all das in den Dienst der beratenden Seelsorge einbringt, wird sich durch die Kirchen ein Strom der Heilung ergießen."(S: 14)

 


Buchbesprechung 19. August 1972

Karl Ledergerber
DIE AUFERSTEHUNG DES EROS
Die Bedeutung von Liebe und Sexualität für das künftige Christentum.
München, 1971, 222 Seiten

Mit der Aussicht, daß die Erfahrung der sexuell-erotischen Liebe in der Zukunft einer der wenigen Wege zur Gotteserfahrung sein könnte, läßt Karl Ledergerber sein Buch über die Bedeutung von Liebe und Sexualität für das künftige Christentum enden. Eine ungewöhnliche Perspektive, die eher in die Zeit orientalischer Tempelprostitution als in die unsrige mit ihrer säkularisierten Sexualpraxis zu passen scheint. Vollends deplaciert muß eine derartige Auffassung im Raum einer Kirche wirken, die mit großer Ängstlichkeit den Ausbrüchen sexueller Emanzipation zu wehren versucht. Auf den ersten Blick ist man erstaunt, von einen Autor, der vor zehn Jahren das vielbeachtete Buch "Kunst und Religion in der Verwandlung" geschrieben hat, jetzt ein Werk mit dem provozierenden Titel "Die Auferstehung des Eros" in die Hand zu bekommen. Aber schon nach der Lektüre der ersten Seite zeigt sich der theoretische Ansatz, der beide Themenbereiche miteinander verbindet. Er läßt sich am besten mit Begriff der Entsakralisierung umschreiben. Während sich aber die Kunst mit allen sonstigen Bereichen von einer überholten Sakralität befreit habe, sei die Sexualität noch weitgehend in den Fesseln einer kirchlichen Sakralwissenschaft gefangen gehalten.

Sie trennt weiterhin gerade auf diesem Sektor noch scharf zwischen sakral und profan. Dabei wird das Geistige stärker dem Göttlichen und damit Sakralem, das Leibliche, und dabei vor allem das Sexuelle, mehr dem Profanen zugeordnet. Das schlägt sich in einer Abwertung aller Phänomene nieder, die erotischer und sexueller Natur sind. Gerade das Christentum kennt einen Unterschied zwischen der geistig-religiösen Liebe, die als hohe bezeichnet wird, und einer niedrigen, die sich im sexuellen Rahmen abspielt.

Daß beide bislang nicht in einen sich gegenseitig bereichernden Einklang gebracht werden konnten, wertet Ledergerber als Zurückbleiben hinter der christlichen Botschaft. Die Liebe, von der das Evangelium spricht, appelliert an die Hingabebereitschaft des Menschen. Sie läßt sich aber in allen echten Formen der Liebe, nicht zuletzt auch in der erotischen, verwirklichen. Ledergerber schreibt – und beruft sich hierbei auf den christlichen Philosophen Solowjew: „leibhafte Liebe ist nicht nur kein Hindernis zu selbstloser Liebe, sondern ein Mittel, um sie zu erlangen." Gerade ihr ekstatisches Moment, das den Menschen aus sich herausführt, ist ihm eine Bestätigung seiner Ansicht. Man brauche nur das Johanneswort, dass jeder, der liebt, Gott erkennt, auf die Sexualliebe zu übertragen, um der unheilvollen Entzweiung von geistiger und körperlicher Liebe zu entkommen.

Ledergerber, der aus der geschichtlichen Evolution des Menschen eine Fülle an Material beibringt, sieht einen Frühling des Eros kommen, eines Eros, der zur Berührungsfläche und Vermittlung zwischen Gott und Mensch wird. Eros reiße den Menschen aus seinem Ich heraus und befähige ihn, „dem Unfassbaren zu begegnen und sich ihm hinzugeben." Allerdings müsse die Sexualität aus der von der Kirche zugebilligten bloßen Fortpflanzungsfunktion gelöst werden und einen nicht nur an die Ehe gebundenen selbständigen Wert erhalten.

Weiten kirchlichen Kreisen dürften Ledergerbers Thesen über den Horizont gehen; für kirchlich nicht gebundene Menschen bringen sie zum Teil längst Erkanntes, zum Teil Unverständliches. Beide Seiten werden auf Ledergerber vermutlich nicht hören. Das ist bedauerlich angesichts des Versuchs, die unbewältigte Sexualität mit den besten Kräften der menschlichen Entwicklung zu konfrontieren.


Buchbesprechungen 24. März 1974

Karl Maly:
Jesus:
Anweisung zur Kritik zu Gesellschaft, Mensch und Religion
Kevelaer 1973, 172 Seiten

Rolf Baumann u.a.:
Zukunft, das sind wir
Provokationen, Kritik, Impulse
Kevelaer 1973, 128 Seiten

Philipp Schmitz:
Die Armut der Welt als Frage an die Christliche Sozialethik
Frankfurt 1973, 93 Seiten

Willi Lambert u.a.:
Damit alle leben können
Mainz 1973, 170 Seiten

Ob sich jeder Neutestamentler verpflichtet fühlt, sein Jesusbuch zu schreiben? Karl Maly jedenfalls läßt sich durch die Fülle einschlägiger Veröffentlichungen nicht davon abschrecken. Immerhin verspricht der Titel "Jesus: Anweisung zur Kritik an Gesellschaft, Mensch und Religion" eine aktuelle Variation des Themas. Leser, denen an christlicher Motivation für gesellschaftliche und sonstige Veränderungen gelegen ist, werden allerdings auf herbe Weise enttäuscht. Das, was Maly nach Art gängiger Kurzansprachen anbietet, verbindet Allgemeinplätze mit weithin bekannten Ergebnissen der Bibelwissenschaft. Ein Leserkreis, der hierfür einen Nachholbedarf hat, wird vermutlich wegen des umstürzlerisch klingenden Titels auf eine Lektüre verzichten.

Modernität in der Verpackung, das scheint für den Verlag Butzon&Bercker aus dem Wallfahrtsort Kevelaer das Rezept zu sein, mit dem er ein weiteres Buch mit Provokationen, Kritik und Impulsen herausgibt. Rolf Baumann und Mitautoren - von den Zitaten her gründliche Leser der Frankfurter Allgemeinen Zeitung - werden in diesem Falle aber ihrem Thema "Zukunft, das sind wir" gerecht. Sie vermögen Anregungen für eine zeitgerechte Lebensgestaltung zu vermitteln, wenn sie den Blick für das Unmenschliche wie für das Menschliche schärfen und Spielregeln für ein freies Leben finden wollen. Im Fettdruck schlagen die Verfasser den Christen vor, "in produktiver Phantasie Möglichkeiten glücklicheren Lebens durchzuspielen". Dazu zählt alles, "was die Versklavung des Menschen vermindert, entfremdende Arbeit aufhebt, die Entscheidungsmöglichkeiten vermehrt, die Qualität des Lebens verbessert und"- darauf wird im Buch großer Wert gelegt - " die Welt zum Genuß freigibt". Dabei wird der Leser immer wieder durch aktivierende Fragen aus der konsumierenden Haltung herausgeholt und zu eigenen Konsequenzen für sein Leben angeregt.

Einen grundsätzlich neuen Ansatz für die christliche Sozialethik sucht Philipp Schmitz; und er findet ihn überraschenderweise in der Armut, von der zwei Drittel der Menschheit hart und unbarmherzig betroffen sind. Zu diesen Benachteiligten, die nicht satt zu essen haben, zählt Schmitz noch diejenigen hinzu, die unter der Friedlosigkeit, der Zerstörung der Umwelt, dem Überfluß des Konsums u.ä. leiden. Armut in diesem umfassenden Sinne ist die grundlegende Realität unserer Zeit. "Niemand", so schreibt Schmitz, "wird auch nur eine Lösung für ein soziales Problem vorschlagen können, die nicht auf die Masse der Entrechteten Rücksicht nimmt." "Die Armut der Welt bestimmt das Gesetz unseres Handelns."

Diese klare Grundthese versucht Schmitz in seinem Buch "Die Armut der Welt als Frage an die christliche Sozialethik" in ein wissenschaftliches Begriffsinstrumentarium einzufügen. Damit wird er leider für einen interessierten Laien fast ungenießbar.

Es gibt indes eine Ausweichmöglichkeit auf ein anderes Buch, in dem eine Gruppe von Studierenden Material aus den Vorlesungen von Schmitz und aus entsprechenden Arbeitskreisen zusammengestellt hat. Sie will hiermit von der weltweiten Armut ein realitätsbezogenes Bild vermitteln. Der Titel des Buches "Damit alle leben können" macht deutlich, daß es nicht um reine Information sondern um Aktion, wenigstens aber um ein Umdenken geht. Neben der Brot-Armut werden die Arbeitsemigration, die Umweltverschmutzung, die Manipulation durch die Massenmedien und die Verplanung der Zukunft behandelt. Als Ergebnisse eines auf den globalen Fakten beruhenden Umdenkens gelten Solidarität, Gewährung von Heimat und vor allem ein einfaches Leben mit gehörigem Konsumverzicht; über die sozialethischen Maximen einer neuen Politik schweigt sich das Buch bedauerlicherweise aus. Hier reicht es nur für Anregungen zur Bildung von Bürgerinitiativen.


Buchbesprechung 1973

Bernard Besret
Wenn die Nacht wie der Tag leuchtet
Realutopie einer neuen Kirche
Limburg 1973, 196 Seiten

Was ungeduldige Leser oft um den vollen Genuß der Lektüre eines Buches bringt, empfiehlt sich bei dem vorliegenden Titel "Wenn die Nacht wie der Tag leuchtet, Realutopie einer neuen Kirche". Man lese zuerst die letzten Seiten, ein Interview des Nachrichtenmagazins "L'Express" mit dem Verfasser, dem 34-jährigen Bernard Besret, Ex-Oberer des französischen Zisterzienserklosters Boquen. Darin erläutert Besret, wie es zu der von Rom verfügten Amtsenthebung kam. Diese Entwicklung sollte man kennen, wenn man sich auf den theologischen Entwurf des Buches einläßt. Die einzelnen Kapitel über Voraussetzungen, Möglichkeiten und Strukturen einer erneuerten Kirche bieten nämlich im Grunde nichts anderes als eine Reflexion von Erfahrungen, die der Autor in seinem Kloster gemacht hat. Dabei handelt es sich um ein Kloster, das als offenes Haus, ja als eine Art Kulturzentrum vorwiegend junge und kritische Geister angezogen hatte.

Angefangen hatte es mit dem Versuch, die vom Konzil eingeleitete Erneuerung der Liturgie konsequent weiterzuführen in Worten und Gesten des heutigen Menschen. Schon bald konnte man sich darauf nicht mehr beschränken, sondern machte sich auf die Suche nach neuen Ausdrucksformen für das gesamte Leben. Immerhin behielt die Eucharistie ihren Vorrang, wobei sie mehr einem modernen Fest als dem überlieferten Gottesdienst glich. Im Hauptteil des Buches, wo die Auslassungen über die Liturgie einen breiten Raum einnehmen, heißt es über Ostern: "Das Osterfest ist für die Christen, was Woodstock für eine Hippie-Generation, was der Karneval von Rio für die Brasilianer ist: die utopische Verwirklichung des Reiches (Gottes), in dem jeder sich ausgibt und hingibt, bis sie nur mehr eins sind": Unter diesen Vorzeichen entsteht in Boquen eine Gemeinschaft, die sich als Ort der lebendigen Erinnerung an Jesus und damit gleichzeitig als Ort der Ankündigung und Vorwegnahme einer neuen Welt versteht.

Sie ist damit eine der Gemeinschaften, die der Verfasser als Mikro-Gemeinschaften bezeichnet. Aus ihnen und aus ihrem gegenseitigen Verbund müßte das wiederentstehen, was mit der universalen Kirche gemeint ist.

Prior Besret hat für seine Gemeinschaft, die sich aus allen Schichten der Gesellschaft rekrutierte, die kirchliche Anerkennung gesucht. Sie wurde ihm versagt, indem man ihn seines Postens mit dem Vorwurf, er verwirre die Seelen, enthob. Das ändert nichts an der Legitimation ein utopisches Konzept vorlegen zu dürfen, da es im entscheidenden Ansatz nicht bloße Utopie sondern vom Leben gedeckte Real-Utopie ist.


Buchbesprechung 8. Dezember 1974

Gerhard Adler
Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde...
Parapsychologie - Okkultismus - Religion
Frankfurt, 1974, 198 Seiten

Daß Spuk, Poltergeister, Besessenheit, Hellsehen, Vorauswissen und Telepathie einer Wissenschaft - näherhin der Parapsychologie zugeordnet werden, ist eine wichtige - wenn auch nicht unumstrittene - Vorentscheidung darüber, daß man derartige Phänomene als gegeben annimmt. Damit können sie nicht mehr einfach der Welt des Betruges oder der Selbsttäuschung zugewiesen werden. Es handelt sich vielmehr um Vorgänge, die nach bestimmten, erforschbaren Gesetzen ablaufen und teilweise sogar im Laboratorium wiederholt werden können.

Eine nicht minder grundsätzliche Entscheidung ist damit gefallen, daß diese außergewöhnlichen Ereignisse einem Grenzgebiet der Psychologie, eben der Para-Psychologie, zugeordnet sind. Als bisher plausibelste Erklärung, die allerdings auch nicht allzuviel austrägt, gelten unbewußte und unbekannte Kräfte des Seelischen. Damit ist gegen den überlieferten Erklärungsversuch Front gemacht, für das Okkulte seien außerirdische Geister oder Verstorbene aus dem Jenseits verantwortlich.

Gerhard Adler, der in seinem Buch "Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde..." eine Lanze für die Wissenschaftlichkeit der Parapsychologie bricht, geht davon aus, daß die Tatsächlichkeit okkulter Vorgänge zwar unbestreitbar ist, in ihrer Deutung und Erklärung bislang aber nur geringe Fortschritte gemacht werden konnten. Die wissenschaftliche Arbeit auf diesem Gebiet bezeichnet der Autor als eine sehr heikle Angelegenheit, weil sie sich ebenso von den radikalen Leugnern der Tatbestände wie auch von unkritisch Gläubigen absetzen muß.

Adler, der umfangreiches Material über Definition, Erklärung und Bedeutung des Okkultismus zusammengetragen hat, will nicht nur über den derzeitigen Stand der Diskussion informieren, sondern auch die weltanschauliche Bedeutung der geheimnisvollen Grenzerfahrungen herausstellen. Das naturwissenschaftliche Weltbild steht in Frage, wenn es feststellbare Tatsachen gibt, für deren Vorhandensein keine bestimmte Kraft oder Energie angegeben werden können. Das Prinzip, für jede Wirkung müsse es eine Ursache geben, gerät ins Wanken. Die Philosophen müssen sich nach dem Verhältnis von Materie und Geist, Körper und Seele fragen lassen. Wenn ein Mensch zukünftige Dinge voraussagen kann, wie steht es dann um unseren Zeitbegriff? Was ist mit der menschlichen Willensfreiheit? Die Theologen stehen - nach Adler - u.a. vor der Frage, wie das Jenseits in unsere Welt hineinragt, und in welcher Form es das Weiterleben nach dem Tode gibt.

Auf der ganzen Welt macht sich ein brennendes Interesse am Okkulten bemerkbar. Wie ist das zu bewerten? Als Suche nach Lebenssinn? Als Ausgleich für die Verkümmerungen rationaler Lebensweise? Als Möglichkeit der Bewußtseinserweiterung? Als Bestätigung für ein persönliches Weiterleben nach dem Tod? Als Gegengewicht für das Ungenügen an einer Konsumgesellschaft? Als Überwindung der Grenzen der sichtbar-materiellen Welt? Adler trifft in diesem Zusammenhang eine bezeichnende Feststellung. In der letzten Zeit verdränge die okkulte Literatur die politischen Kampfschriften der Linken. Immerhin war diese ja angetreten, um die Entfremdung des Menschen zu überwinden. Adler glaubt, die übermäßige Konzentration auf die gesellschaftlichen Strukturen und Veränderungen habe die unmittelbaren Bedürfnisse des Individuums verdeckt. Der Okkultismus sei darauf eine Antwort. Dieser Gedanke ist zwar kein Hauptstrang des Buches, bedarf aber im Kontext einer Beschäftigung mit der Parapsychologie besonderer Aufmerksamkeit.

Vielleicht gehört der Okkultismus moderner Prägung in die gleiche Linie wie der ideologisch propagierte Konsum von Drogen und die Vorliebe für asiatische Philosopheme. Es steckt dahinter die Angst vor der Wirklichkeit, vor den Ansprüchen unserer Zeit. Man weicht aus in anomale Erlebnisse und Grenzsituationen, ein psychopathologisches Phänomen. Insofern sollte die Aufgabe der Kirche und der Theologie nicht darin bestehen, die von der Quantität und Qualität her unbedeutenden Grenzerfahrungen okkulter Vorgänge unnötig aufzuwerten, indem man sich auf ein überholtes Diesseits-Jenseits-Schema einläßt, sondern das Krankhafte der meisten dieser Erscheinungen zum Anlaß zu nehmen, Heilung und Erlösung erfahrbar zu machen. Jedwede Spekulation über ein Jenseits ist unwichtig angesichts der Frage, wo und wie sich Gottes Herrschaft bereits jetzt anzeigt. Unter diesem Aspekt ist die Beschäftigung mit sozialistischer Literatur für die Theologen immer noch wichtiger als das Studium okkulten Schrifttums. Aus dem für das Verständnis des ganzen Problemkreises wichtigen Buches sei ein Zitat von T.W. Adorno angeführt; "Die Neigung zum Okkultismus ist ein Symptom der Rückbildung des Bewußtseins. Es hat die Kraft verloren, das Unbedingte zu denken und das Bedingte zu ertragen."


Buchbesprechung 10. August 1975

Ludwig Bertsch SJ (Herausgeber)
THEOLOGIE ZWISCHEN THEORIE UND PRAXIS
Beiträge zur Grundlegung der Praktischen Theologie
Frankfurt, 1975 , 232 Seiten

Die Praktische Theologie, ein Kind der Aufklärungszeit, war über lange Zeit das Aschenputtel der Theologie. Ihre Aufgabe bestand im Wesentlichen darin, die Schoten der hohen Gotteswissenschaft aufzubrechen, um die guten Erbsen in das Töpfchen kirchlicher Praxis kullern zu lassen. Praktische Theologie als Handwerkslehre oder Amtstechnik angehender Pfarrer, vielleicht auch als Medium der Popularisierung spekulativer Theologenweisheit.

Das hat sich geändert. Inzwischen macht sich das Aschenputtel anheischig Prinzessin zu spielen, indem es im Aufwind der allgemeinen Theorie-Praxis-Diskussion den Großen der Theologie verhilft nicht den harten Boden heutiger Wirklichkeit zu verlieren und der immer drohenden Gefahr bloßen denkerischen Glasperlenspiels zu entgehen.

Kennzeichnend für den Situationswandel ist u.a. die Tatsache, dass ein Wissenschaftstheoretiker, ein Religionssoziologe, ein Neutestamentler mit dem Pastoraltheologen, dem Jesuiten Ludwig Bertsch, zusammentun, um die "Theologie zwischen Theorie und Praxis!' - so der Buchtitel - zu reflektieren und dabei zu versuchen, der Praktischen Theologie den ihr gemäßen Ort im Bereich der Glaubenstheorie anzuweisen.

Es gibt die Praxis von Glaube und Kirche und es gibt die dazugehörige Theorie, nämlich die Theologie. In welchem Verhältnis stehen sie zueinander, wie kommt die Theologie der Praxis zugute, wie befruchten Glaube und Liebe die theologische Theorie? Darüber läßt sich wieder eine eigene Theorie entwickeln, gewissermaßen die Theorie der Theorie. Das theoretische und praktische Bindeglied zwischen beiden Bereichen, wäre die Pastoraltheologie. Sie hat es aber, wie der Wissenschaftstheoretiker und der Neutestamentler herausstellen, mit einer besonderen Art von Praxis zu tun und mit einer besonderen Art von Theorie. Der eine findet für den Glauben den Begriff der dialogischen Praxis, der eine ursprüngliche Einheit von Theorie und Praxis einschließt. Glaube ist ein Hören, also ein theoretisches Aufnehmen, gleichzeitig aber auch ein Sprechen auf einen anderen hin, der damit in seiner Haltung verändert werden soll, also Praxis. Der andere, der Neutestamentler arbeitet heraus, daß das beginnende Christentum eine Spannung zu bewältigen hatte, die Spannung von hörendem Vernehmen der Verkündigung und dem aktiven Gestalten in der Welt. Matthäus und Lukas, Paulus und Johannes hätten jeweils ihre Antwort auf diese Spannung gesucht.

Symptom für die mangelnde Anziehungskraft heutiger Kirchen ist nach dem Soziologen, daß es in der Praxis nicht gelingt die christliche Theorie, er nennt sie Sinnwelt, wirklich zu leben. Die Praktische Theologie hätte konkrete Handlungsentwürfe zu liefern, die es dem einzelnen erlauben, die theologischen Glaubensinhalte zum innerlichen Besitz werden zu lassen, so daß sie in wirklichen Vollzügen zum Ausdruck kommen können. Das hinwiederum wird nicht gelingen, wenn die Grundvorgänge der heutigen Welt und Gesellschaft nicht in das Verstehen des einzelnen vermittelt werden. Dazu gehören die Einsicht in die Zusammenhänge der Wirtschaft und der politischen Entscheidungsprozesse, die Kenntnis der allgemeinen Weltprobleme und der Gesellschaftskritik. Es sind ethische Maximen bereitzustellen zur Bewältigung internationaler Krisen, der Umweltbelastung und des Wirtschaftswachstums. "Nur über die Beteiligung", so heißt es an einer Stelle, " an den allgemeinen Bemühungen zur Humanisierung der Welt kann das Maß an Autorität gewonnen werden, das nötig ist, um bei Einbringen erfahrungsunvermittelter Sinnangebote das nötige Gehör zu verschaffen."

All das und noch vieles mehr soll die Praktische Theologie leisten. Im Grunde wird ihr in dem vorliegenden Buch fast die ganze Last der Theorievermittlung von der Theologie und von den Erfahrungswissenschaften her auf die Praxis einer noch im entscheidenden zu verändernden Kirche hin aufgebürdet. Dagegen sollte sich eine wissenschaftliche Spezialdisziplin füglich wehren, weil ihr sonst schließlich noch die Unangepaßtheit derzeitiger kirchlicher Praxis angelastet wird. Armes Aschenputtel!


Buchbesprechung 11. Mai 1975

Else Pelke:
DER LÜBECKER CHRISTENPROZESS 1943
Mainz, 1961/1974, 202 Seiten

In Abständen von jeweils drei Minuten ließ am Abend des 10. November 1943 der Henker des Zuchthauses Hamburg-Holstenglacis das Fallbeil niedersausen. Damit vollstreckte er das Todesurteil an den katholischen Lübecker Kaplänen Johannes Prassek, Eduard Müller, Hermann Lange und an dem evangelischen Pastor Karl Friedrich Stellbrink. Sie hatten gegen die Unmenschlichkeiten des nationalsozialistischen Regimes protestiert: durch offene Stellungnahmen auf der Kanzel und in Gemeindegruppen, durch Verteilen von Flugschriften, durch Verkehr mit Juden und Fremdarbeitern. Ihr Protest entsprang nicht so sehr einem politischen als vielmehr einem moralischen und pastoralen Engagement. So gehörten sie auch keiner Untergrundorganisation an. Dennoch galten sie für das Regime als äußerst gefährlich.

Else Pelke hat unter dem Titel "Der Lübecker Christenprozeß 1943" das verfügbare Material zusammengetragen und neben einer Darstellung der vier Persönlichkeiten Verhaftung, Gefangenschaft, Prozeß und Hinrichtung nachgezeichnet. Sie geht davon aus, daß der im Juni 1943 eigens aus Berlin nach Lübeck angereiste 2, Senat des Volksgerichtshofes den fertigen Urteilsspruch bereits mitbrachte. Es mußte wohl im Sinne Heinrich Himmlers ein Exempel statuiert werden. Danach hat "ein Mann in Amt und Würden" seinen Kopf zu verlieren, wenn er "beim friedlichen, braven, deutschen Mann" - so wörtlich - "Glauben, Vertrauen, Treue und Gehorsam zerstört". Von der Bekanntgabe einer Hinrichtung solcher Leute verspricht sich Himmler eine abschreckende Wirkung, wobei - wieder Zitat - "dadurch aus einem verfehlten Leben ein Nutzen für die Nation entsteht".

Das Lübecker Urteil sollte allerdings noch nicht den Kirchenkampf einläuten. Das glaubte sich Hitler seinerzeit noch nicht leisten zu können. Die endgültige Abrechnung wurde für die Zeit nach dem Endsieg aufgespart. Worte Hitlers 1942 im Führerhauptquartier: "Solange wir die Pfaffen dulden, geschieht uns das ganz recht. Aber diesen Kampf der deutschen Geschichte werde ich endgültig einmal für immer zum Austrag bringen." Soweit der politische Hintergrund des Lübecker Prozesses.•

Was aber ist in den Männern vorgegangen, die dieser Terrorjustiz des Dritten Reiches ausgeliefert waren? Aus der Zusammenstellung von Gesprächsaufzeichnungen, Tagebucheintragungen, Notizen und Briefen werden die Umrisse von Menschen sichtbar, die in der Gewißheit des Todes zu einer inneren Ruhe und Gelöstheit finden, die ihre Umgebung in Staunen versetzt. Prassek und Müller hatten nach der Urteilsverkündigung unabhängig voneinander in ihr Neues Testament geschrieben: „Der Name des Herrn sei gepriesen - Heute wurde ich zum Tode verurteilt". Geradezu ungeduldig wartete Prassek auf die Stunde seiner Hinrichtung. "Ich habe lange Zeit nicht mehr," so schreibt er, "so ruhig und selig gelebt, vielleicht noch nie, wie jetzt." Die Vorstellungen, die ihn und auch die andern prägen, kommen aus einer starken Jenseitshoffnung. Dort erwarten sie die beglückende Begegnung mit Gott und einst auch das Wiedersehen mit ihren Angehörigen, Freunden und Gemeindegliedern. Geradezu kindlich freut sich Kaplan Lange darauf, im Himmel seine Lieblingsheilige, die hl. Theresia von Lisieux zu sehen und von ihr an der Hand genommen zu werden. Von ihm stammt der Satz: "Wenn man wirklich die ganze Hingabe an den Willen Gottes vollzogen hat, dann gibt das eine wunderbare Ruhe und das Bewußtsein unbedingter Geborgenheit". Hier tragt für einen Leser des Jahres 1975 der Versuch einer theologischen Einstufung nichts mehr aus. Es beginnt der Respekt vor menschlicher und christlicher Größe. Die Autorin schreibt: "Sie waren keine Helden". Aber, wer sind dann Helden?


Buchbesprechung 19. August 1975

Heinz Manfred Schulz
DAMIT KIRCHE LEBT
Eine Pfarrei wird zur Gemeinde
Mainz, 1975, 123 Seiten

Den Expeditionsbericht über ein risikoreiches Unternehmen legt dessen Initiator und Leiter zur Nachahmung vor. Beschrieben wird die erste Etappe einer Reise, an der eine bunt zusammengewürfelte Gesellschaft teilnimmt, und die bereits sieben Jahre dauert. Es geht um den Exodus, den Auszug einer Pfarrei weg von den Fleischtöpfen einer traditionell gesicherten religiösen Versorgung in das Gelobte Land partnerschaftlicher Gemeinschaft. Das Protokoll dieser geistlichen Expedition hat Heinz Manfred Schulz, Pfarrer einer Neubaugemeinde an der Peripherie Frankfurts, geschrieben. 5.000 Seelen sind ihm von Rechts wegen zugewiesen in einem Städtchen von 18.000 Bewohnern. Ein bescheidener alter Ortskern, der auf 1200 Jahre zurückblickt, ist umsäumt von der Skyline strukturloser Wohnmaschinen. Der Grünewald-Verlag hat für den Bericht den Titel gewählt "Damit Kirche lebt". Aussagekräftiger ist der Untertitel: „Eine Pfarrei wird zur Gemeinde".

Der pastorale Aufbruch sollte nicht aus der Großkirche herausführen, er hat es bislang - trotz äußerst kritischer Einstellung zur ihr - auch nicht getan. Schulz ist von dem nachkonziliaren Glauben getragen, daß diese Kirche mit ihren Pfarreien bei aller institutionellen Schwerfälligkeit reformierbar ist. Die Erfahrungen in der Pfarrei Eschborn sind ihm dafür der Beweis. Keine Sondereliten, keine Personalgemeinden, keine Gemeinschaften von Gesinnungsgenossen lösen für ihn das gesamtkirchliche Problem. Die normale Pfarrei soll sich mit Sack und Pack aufmachen, um an neuen rettenden Ufern zu landen. Das Ziel ist die Gemeinde, die sich von der Basis her in Gruppen aufbaut. Deren Glaubensgeist und Miteinander soll Gottes Güte und Menschenfreundlichkeit deutlich machen.

Das Rezept in Eschborn: Gespräch und noch einmal Gespräch, naturgemäß in der überschaubaren Gruppe. Und so wird in dem Büchlein auf sehr anschauliche und eingängige Weise eine Art Theologie des Dialogs geboten, von der kirchliche Schreibtischstrategen vieles lernen könnten.

Angefangen hat der Prozeß in Eschborn mit den ersten Wahlen zum Pfarrgemeinderat. "Da kam der Gedanke auf," so erinnert sich Pfarrer Schulz, "könnten wir nicht alle Pfarrangehörigen zu kleinen Diskussionsgruppen einladen, um in der Pfarrei erst einmal das Gespräch untereinander in Gang zu setzen und mehr Kontakt zu schaffen?" 350 Personen nehmen ein entsprechendes Angebot an und diskutieren in 50 Gesprächsrunden. Das große Gespräch, das mit diesem Experiment einsetzt, ist nicht mehr verstummt und hat tatsächlich Pfarrei und Pfarrer von Grund auf verändert. In welch vielseitiger Form - einen Kinderpfarrgemeinderat mit eingeschlossen - die Kommunikation gepflegt wurde, welch unterschiedliche Themen behandelt wurden, welche Folgerungen sich daraus ergeben haben, ist auf mehr als 100 Seiten nachzulesen.

Natürlich, es sind bei dem Auszug nach innen nicht Tausende in Bewegung geraten, aber doch wohl einige Hundert. Bei ihnen sind Glaube, Hoffnung und Liebe stärker geworden und tragen deutlicher bei zur Daseinsbewältigung. Ein paar Dutzend haben sich inzwischen noch enger zusammengeschlossen, und zwar zu sogenannten "Kristallisationspunkten". Sie wollen in der Gruppe Front machen gegen eine Gesellschaft, die es ihnen durch Konsumzwang und Prestigedenken so schwer macht Christen zu sein. Wie sich abgekürzt ein "Kripu" auswirkt, sagt ein Mitglied: "Man hat das Gefühl, der Tag wird von der Gemeinschaft mitgetragen. Man ist nicht allein. Das gibt Kraft, Sicherheit und Bereicherung." Der Pfarrer, nicht gerade als überschwenglich in seinen Gefühlen bekannt, bekennt in der Osterpredigt 1974: "Christus ist auferstanden, und wir sind ihm begegnet, begegnet in unserer Gemeinde. Dank sei ihm und Alleluja!"