Herbert Leuninger

ARCHIV KIRCHE
1990

Gott liebt die Fremden
(Dtn 10,18)

(Wohl der Beitrag für eine Tagung der
Christlich-Demokratischen-Arbeitnehmerschaft (CDA)
am 22. Oktober 1990 in Bonn)

INHALT

Die Kirche als eine Gemeinschaft der in dieser Welt Fremden sollte eine besondere Nähe zu Einwanderern und Flüchtlingen haben.

Der Umgang mit dem Fremden verrät viel über die Einstellung des Christen zum Mitmenschen. Distanz und Nähe zum Fremden, wodurch werden sie in der Kirche bestimmt? Normalerweise von Appellen der Nächstenliebe, die bei der Mehrheit allerdings kaum fruchten! Was für einen besseren Umgang mit den Fremden vielleicht fehlt, ist das eigene Betroffensein. Bis in die Kirchen hinein gibt es die Angst vor den Fremden. Es ist nicht nur die Angst davor teilen zu müssen. Brosamen und Almosen fallen allemal noch ab. Aber es geht offensichtlich um mehr. Es geht um die Angst vor der Überfremdung. Ist es einmal die Angst, die Türken könnten es sein, die das christliche Abendland wie damals bei Wien bedrohen, so sind es jetzt eher die Flüchtlinge aus der "Dritten Welt", die Angst einjagen. Die Angst? Wir könnten überfremdet werden, wir könnten zu Fremden im eigenen Land werden.

Fremdsein heißt, nicht dazugehören, nicht daheim sein, ausgeliefert sein, kein angestammtes Recht haben, keine Sicherheit, keine endgültige Bleibe, keine unbestrittene Wahrheit. Wer mit dieser Angst nicht umgehen kann, wird zum versteckten oder offenen Fremdenfeind, wählt notfalls rechts.

Die Kirchen haben sich offiziell immer den Fremden zugewandt. Die Predigt hat die Gerichtsrede Jesu zitiert: "Ich war fremd und du hast mich beherbergt." Es ist überhaupt keine Frage, daß Christen ein besonders gutes Verhältnis zum Fremden haben sollten.

Betroffensein, das hieße, sich selbst als Fremden zu fühlen. Das schüfe Nähe. Eine solche Betroffenheit geht aber den Christen, die sich als Einheimische verstehen, weitgehend ab. Die Christen, gerade in Westeuropa, zählen sich voll und ganz zu ihrer jeweiligen Gesellschaft, tragen sie mit und profitieren von ihr. So bilden sie Gemeinden der Ansässigen und Einheimischen, der Etablierten und Zugehörigen. Das macht sie nicht nur unempfindlich gegenüber den Fremden sondern sogar ablehnend.

Ziemlich früh in der Geschichte ist den Christen das entscheidende Lebensgefühl verloren gegangen, das Gefühl nämlich Fremde in dieser Welt zu sein, nicht in diese Welt zu gehören, nicht von dieser Welt zu sein. Das Lebensgefühl der Christen war zumindest in den ersten Jahrhunderten ein zwiespältiges, ambivalentes. Sie bewohnten jeder sein Vaterland, aber wie Beisassen, wie Schutzverwandte, also wie nicht ganz dazugehörige Nebenbürger, sie nahmen an allem wie die (Voll-)Bürger teil, ertrugen aber alles wie Fremde. Dies ist eine Beschreibung aus dem Diognet-Brief, in dem es wörtlich heißt: "Jede Fremde ist ihr, Vaterland und jedes Vaterland Fremde". Von Anfang an haben sich die Christen als in dieser Welt lebende Fremde, als Beisassen, als Paroiken (Parochia, später Pfarrei) verstanden und die christliche Gemeinde als Gemeinschaft von Fremden und Beisassen aufgefasst, die letztlich nirgendwo hingehören und doch überall zuhause sein können. Diesem Fremdsein in politischen und gesellschaftlichen Strukturen entspricht ein letztes Zuhausesein, das als Himmel umschrieben wird, und das in der Gemeinschaft der Kirche bereits seinen Anfang nimmt. Paulus beschreibt dieses Spannungsverhältnis in einem Brief an die Gemeinde in Ephesus: "Ihr seid nicht mehr Fremde und Nebenbürger, sondern Mitbürger der Heiligen und gehört zum Hause und zur Familie Gottes" (Eph.2,19).

Der Exodus aus Ägypten, die Flucht vor der Unterdrückung und die Einwanderung in ein Gelobtes Land sind und bleiben das Urbild des Aufbruchs und der Befreiung auf eine neue Welt und auf eine neue Gemeinschaft hin, die unter der Herrschaft Gottes steht. Daher besteht auch aus dieser Sicht eine tiefe Gemeinsamkeit und Solidarität mit allen Menschen, die aus der Unterdrückung und wirtschaftlicher Not auswandern oder flüchten und ihre Rettung und ihr Heil in einem anderen Land suchen Dies müßte sich in einem Gefühl gegenseitiger Bekanntheit, Nähe und Schicksalsgemeinschaft ausdrücken.

Kaiser Konstantin hat es aber geschafft, daß die Christenheit aufhörte eine Gemeinde des Aufbruchs und der Fremden zu sein. Die Christen fühlten sich angekommen, wollten nach den Jahrhunderten der Verfolgung endlich dazugehören. Und so wurden sie vollgültige, unangefochtene Staatsbürger. Dabei ist es im Wesentlichen bis heute geblieben.

Die Kirche, die keine Kirche der Fremden mehr ist, gehen die Fremden nichts an. Eine Kirche der in dieser Welt Beheimateten steht den Fremden fremd gegenüber. Dann macht, es nur einen unwesentlichen Unterschied, ob Christen den Fremden gegenüber auf vornehmer Distanz bleiben oder fremdenfeindlichem Ungeist verfallen.

Die Angst in den Gemeinden sitzt tief, die Fremden könnten uns befremden. Sie könnten uns an unser Fremdsein erinnern, daran, daß unsere Heimat nicht in den Strukturen dieser Welt ist. Die Angst vor dem Fremden ist nämlich die Angst vor dem Jesus, der ihnen in den Fremden begegnet und meist ein Fremder bleibt.

Das Kommen der Flüchtlinge in unsere Länder und die wachsende Abwehrhaltung in der Politik und unter der Bevölkerung haben zu einem solidarischen Aufbruch geführt, der seinesgleichen sucht. überall haben sich Gruppen und Initiativen gebildet, in denen Christen und Gemeinden mitarbeiten, in einer begrenzten Anzahl von Fällen haben katholische oder evangelische Gemeinden Flüchtlinge, die in ihre Heimat zurückgeschickt werden sollten, Kirchenasyl gewährt. Unzählige einzelne Menschen, unter ihnen viele Christen, setzen sich für Flüchtlinge ein. Dabei ist ein sehr persönliches Engagement gefordert, daß auch nicht vor öffentlichen und politischen Aktionen zurückschreckt. Bei dieser solidarischen Bewegung stehen Christen verschiedenster Denomination, ausdrücklich nichtreligiöse Menschen und Personen unterschiedlichster Weltanschauung in erstaunlicher Weise zusammen. Versucht man, das Persönlichkeitsprofil der engagierten Christen zu beschreiben, so sind es überwiegend Menschen, die kritisch zu ihrer Kirche stehen, aus der Kirche ausgetreten sind oder sich als Christen am Rande der Kirche verstehen. Sie sind in einem gewissen Sinne Fremde in ihrer eigenen Welt. Ja es geht so weit, daß sie durch ihren unkonventionellen Einsatz auch im Beruf und in der Familie in die Isolierung geraten.

Betrachtet man die vielen Christen und die wenigen Gemeinden, die sich für die Fremden und dabei gerade für die Flüchtlinge einsetzen, so realisieren sie auf neue Weise das Fremdsein in dieser Welt, gehören wahrscheinlich zur Restkirche oder bilden den wiedergeschenkten Ansatz von Kirche.

Jedenfalls geht es für den christlichen Glauben zuerst darum, im Antlitz jedes Fremden das Antlitz Jesu zu entdecken, der durch die Inkarnation eins mit der gesamten Menschheit geworden ist. Der Fremde hat dabei einen christlichen und menschenrechtlichen Anspruch darauf, jederzeit in seiner vollen Würde gesehen und behandelt zu werden. Dies hat zu geschehen ungeachtet der Rasse, Sprache, Religion, des Geschlechts, der politischen Überzeugung oder der sozialen Stellung des Fremden.

Die Fremden sind stimmlos. Sie haben vor allem keine Wahlstimme und sind damit für die unmittelbaren Mehrheitsentscheidungen unbeachtlich; es sei denn, daß die Politiker sich an einer eher abwehrenden Stimmung der einheimischen Bevölkerung orientieren. Die Angewiesenheit der Stimmlosen auf die, die mit ihnen solidarisch sind und ihnen die Stimme leihen können, ist eine zentrales Bedürfnis der Fremden. Die Berufung der Kirche, den Stummen die Sprache zu geben, ist der prophetischen Heilsansage zuzuordnen. Sie ist in erster Linie eine Heilszusage Gottes an die Fremden selbst, daß Gott sie nicht vergessen hat, ihre Not kennt und für Abhilfe sorgt.

Die Heilszusage Gottes an die Fremden ist oft eine Kritik an den Mächtigen. Einzuklagen hat die Kirche in zentraler Weise die Einhaltung und Respektierung der Menschenwürde und ihre Stimme prophetisch immer dann zu erheben, wenn diese Menschenwürde verletzt oder nicht respektiert wird. In der öffentlichen Diskussion über die Fremden und ihre Rechte steht die Kirche als Anwalt der Schwachen, mit denen sie sich solidarisiert hat, zu allererst auf deren Seite. Sie macht sich deren Anliegen und Leiden zu eigen. Dies bedeutet, daß die Kirche nicht nur die Anliegen vertritt, sondern sie zu den ihren macht, also so zu denken, zu sprechen, zu handeln versucht, als sei sie selbst der Fremde.

Die Sehnsucht der Fremden Gehör zu finden und sich als Mensch angenommen zu fühlen, geschieht am ehesten in der Gemeinde, die selbst alle rassistischen und nationalistischen Vorurteile überwunden hat und ein tragendes Gespür für die Gleichheit und Einheit aller Menschen entwickelt hat. Sie ist in der Verkündigung, im Gebet und in der Anwaltschaft unmittelbar Stimme der Stimmlosen, ja sie gibt im direkten Kontakt den Stimmlosen ihre ganz persönliche Stimme zurück, beläßt sie nicht ihrer Stummheit. Es geht um eine neue Art des Zusammenlebens und der Partnerschaft. Die Gemeinde wird zum Ort, wo alle Fremden ohne Grenzen und Barrikaden Menschenfreundlichkeit und Heil erfahren.