Herbert Leuninger ARCHIV KIRCHE
1990

NATIONALSTAAT ODER OFFENE REPUBLIK?
Ausländer, Aussiedler, Asylsuchende - Anfragen an die Kirche

INHALT
1.       DIE POLITISCHE AUFGABE
2.       DIE THEOLOGISCHE BEWERTUNG
2.1.    NATIONALSTAAT ODER OFFENE REPUBLIK
2.2.    MIGRATION UND KIRCHE
2.2.1. DIE ALLGEMEINE MOBILITÄT
2.2.2. DAS RECHT AUF EINWANDERUNG
3.      DAS MEMOMRANDUM ZUR WELTFLÜCHTLINGS-          PROBLEMATIK
4.      SCHLUSS

 

1. DIE POLITISCHE AUFGABE

Da die Bundesrepublik kein Einwanderungsland sein will, hat sie naturgemäß auch kein Einwanderungskonzept. Damit steht sie einigermaßen hilflos vor der nach wie vor ungebrochenen Zuwanderung hunderttausender, ja vielleicht von Millionen Menschen aus der DDR und Osteuropa. Es ist nach der Vertreibung von über 10 Millionen Menschen, nach dem 2.Weltkrieg und nach der Anwerbung von Millionen Menschen als Arbeitnehmer die dritte große, in ihren Dimensionen unübersehbare Phase von Einwanderung. Diese überraschende Herausforderung sucht die Bundesrepublik mit den Vorstellungen eines Nationalstaats ethnischer Prägung zu bestehen. D.h. sie gestattet die nicht begrenzte Zuwanderung aus der DDR und aus Osteuropa unter den rechtlichen Prämissen, daß es sich um Deutsche oder um Deutschstämmige handelt. Der Nationalstaat nimmt sich in einer Weise in die Pflicht, die ihm nach aller bisherigen Ablehnung ein Einwanderungsland zu sein, Schweres abverlangt. Er betrachtet die Aufnahme dieser Zuwanderung in Millionenhöhe als nationale Aufgabe und gibt ihr gegenüber der Aufnahme von Flüchtlingen aus der Dritten Welt deutlichen, ja absoluten Vorrang. Betonung der Aufnahmepflicht auf der einen Seite, Herausstellung einer Abschottungspolitik auf der anderen Seite. Diese Politik gilt als mehrheitsfähig und plausibel.

Die mit dem Kommen der Aus- und Übersiedler und der Flüchtlinge, die mit der Integration der eingewanderten nichtdeutschen Arbeitnehmerbevölkerung und dem damit verbundenen Familiennachzug gestellte politische Aufgabe hat Bundesinnenminister Schäuble am 4. Januar 1990 in einer Presseerklärung umschrieben. (Asylbewerberzahlen 1989, Pressetext des Bundesinnenministeriums vom 4.1.1990)

"Aussiedler sind Deutsche. Das Grundgesetz verleiht ihnen den gleichen rechtlichen Status wie uns Deutschen hier. Sie haben somit das Recht auf Einreise und Aufnahme in die Bundesrepublik Deutschland." Schäuble rechnet bei den Aussiedlern für 1990 mit einer ähnlichen Zahl wie 1989. Da waren es fast 400.000.

Bei den Übersiedlern aus der DDR geht der Innenminister davon aus, daß die Zahl erheblich zurückgeht, wenn sich die Verhältnisse in der DDR verbessern. Derzeit kämen täglich immer noch 1.000. Für die nächsten Monate gehen Experten von ca. 500.000 Menschen aus, die aus der DDR in die Bundesrepublik kommen.

Schäuble beruft sich auf die Einschätzung der Wissenschaft, daß die Übersiedler ein großes Konjunkturprogramm darstellten und das wirtschaftliche Wachstum stärkten. Sie seien längerfristig ein Gewinn für die Bundesrepublik. Es kämen überwiegend junge Familien mit vielen Kindern. Sie trügen damit nicht nur zur Verbesserung der Bevölkerungsstruktur und zur Erhöhung des Sozialprodukts bei, sondern sie machten insgesamt auf Dauer auch unsere Renten sicherer.

Zur Frage der in 1989 auf 120.000 gestiegenen Asylbewerber (nur 55.000 davon sind übrigens aus den Krisen- und Kriegsregionen der sogenannten 3.Welt) erklärt der Bundesinnenminister folgendes:

Die nicht unerwartete Zunahme sei eine Folge des allgemein wachsenden Reiseverkehrs, der insbesondere in Anbetracht des wirtschaftlichen Gefälles zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Herkunftsländern Anreiz gäbe, sich durch Stellung eines Asylantrags einen längeren Aufenthalt im Bundesgebiet zu verschaffen. Sie habe aber auch ihre Ursache in den weltweit zu verzeichnenden Flüchtlings- und Wanderungsbewegungen, die - erleichtert durch moderne Massentransportmittel - bis nach Europa und in die Bundesrepublik Deutschland reichten.

Nun dürfe das Asylrecht nicht zum Instrument der unkontrollierten und unsteuerbaren Einreise und Einwanderung umfunktioniert werden. Sie würde die Aufnahmebereitschaft unserer Bürger überfordern, es gäbe Grenzen der Integrationsfähigkeit jeder Gesellschaft. Sie würde auch den Umstand ignorieren, daß bei uns, im dichtest besiedelten der größeren Flächenstaaten Europas bereits über 4 1/2 Millionen Ausländer leben. Sie würde schließlich nicht der Tatsache gerecht, daß wir Verantwortung für Deutsche tragen, die zu uns kommen, weil sie hier in Freiheit leben wollen. Es sei gegenwärtig eine unserer vordringlichsten Aufgaben, uns um diese Deutschen zu kümmern und die Voraussetzung für ihre rasche Eingliederung zu schaffen.

Schäuble setzt gegenüber den Asylbewerbern auf die Beschleunigung des Asylverfahrens, das mit konsequenter Abschiebung bei Ablehnung verbunden sein soll. Das, so glaubt der Minister, werde sich auf den Asylbewerberzugang auswirken.

Auf die Ausländer allgemein hin heißt es: „Die Bundesrepublik ist ein ausländerfreundliches Land, sie solle es auch bleiben. Diesem Ziel dient die Begrenzung des weiteren Zuzugs ebenso wie die Integration der hier lebenden Ausländer."

Die politischen Prioritäten sind damit gesetzt: unbegrenzte Aufnahme aus der DDR und Osteuropa, begrenzte Aufnahme von Ausländern, verstärkte Abschottung vor und Abschiebung von Flüchtlingen.

2. DIE THEOLOGISCHE BEWERTUNG

Gehen wir einmal davon aus, daß Sie mehrheitlich die Ansichten des Bundesinnenministers teilen. Dies ist noch kein Vorwurf, sondern eine Feststellung, die u.a. damit in Zusammenhang steht, daß eine theologische, auch pastoraltheologische Auseinandersetzung über die mit der Zuwanderung von Millionen Menschen in das Staatsgebiet der Bundesrepublik aufgeworfenen Fragen nur unzulänglich erfolgt ist.

Ich selbst bin von meiner kirchlichen Aufgabe her geradezu gezwungen gewesen, eine Einordnung dessen zu versuchen, was im Rahmen der Migration in der Welt und in der Bundesrepublik vor sich geht, und was die Kirche vom Staat zu fordern hat. Grundlage hierfür waren neben den Beschlüssen der Gemeinsamen Synode von Würzburg und bischöflichen Stellungnahmen vor allem die Lehräußerungen der Päpste.

2.1. NATIONALSTAAT ODER OFFENE REPUBLIK

Solche lehramtlichen Äußerungen lagen nicht immer vor, wie die parlamentarische Diskussion über das Thema Nationalstaat oder offene Republik, die 1913 im Reichstag geführt wurde, belegt .(vgl. Lutz Hoffmann, in: Bürgerrechte für die nichtdeutsche Bevölkerung, Herausgeber: Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn, 1988, S.51ff).

Damals ging es um ein Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz, das heute noch geltendes Einbürgerungsrecht der Bundesrepublik ist und geistige Grundlage des neuen Ausländergesetzes bleiben soll. Das Gesetz kam unter kaiserlichem Druck zustande. Nur die Sozialdemokraten verweigerten am Schluß der Auseinandersetzung ihre Zustimmung. Sie verbanden damit die Warnung, man würde da ein Gesetz machen, das in bestimmten Dingen um Deutschland herum eine Mauer ziehe.

Zum Regierungsentwurf, der mittels der Staatsangehörigkeit eine ethnisch-biologisch verstandene Volksgemeinschaft festschreiben wollte, hatte die Sozialdemokratie einen entscheidenden Abänderungsvorschlag gemacht. Danach sollte einem Ausländer ein Einbürgerungsanspruch nach zweijähriger Niederlassung eingeräumt werden.

Die Begründung des Antrags klingt sehr modern und könnte aus einem Dokument der Europäischen Gemeinschaft stammen : Die moderne Entwicklung des Lebens der Kulturnationen, die zunehmende Annäherung und gegenseitige Durchdringung der Nationen verlange eine solche Konsequenz. Der moderne Wirtschaftsverkehr und der Verkehr von Menschen sprenge die engen nationalen Grenzen. Immer mehr Lebensbereiche würden in die Internationalität hineingezogen. Die Wanderungsbewegungen führten dazu, daß sich immer mehr Ausländer im Inland niederlassen würden. Die geistige Atmosphäre unseres Gemeinwesens mache den, der sie so und so lange eingeatmet habe, zum Bürger. Die Sozialdemokratie hatte damals ein Staatsverständnis, das den Nationalstaat des 19. Jahrhunderts weit hinter sich ließ, wenn in der Debatte formuliert wird, ein Staat sei heute nichts anderes als eine Gemeinschaft derer, die sich zu gemeinschaftlicher Arbeit verbunden hätten. Aus dem Geist der internationalen Solidarität heraus hatten die Sozialdemokraten die Hoffnung, die Souveränität in dem engherzigen, buchstäblichen, alten Sinn werde mit der Zeit in die Internationalität übergehen. Das war vor allem gegen das Reichsamt des Innern gesprochen, das ein Recht auf Aufnahme als eine Abdankung des Staates und eine Niederlegung der Souveränität bezeichnet hatte.

In der Debatte war es überflüssig, daß die extreme Rechte ihre ausländerabwehrende Einstellung artikulierte. Das besorgte weitgehend das Zentrum für sie. Sein Sprecher begrüßte, daß einwandfreie, moralisch und wirtschaftlich tüchtige Leute, die durch Intelligenz oder Vermögen hervorragen, n Deutschland eingebürgert werden, weil das einen Gewinn für unser Vaterland bedeuten würde. Er wandte sich aber gegen eine massenweise Naturalisation galizischer Hausierer und Tausender von mittellosen Landarbeitern, die zu Erntearbeiten aus dem Osten herüberkommen. Würde der sozialdemokratische Antrag angenommen, könnten die Arbeitgeber aus dem fernsten Osten die chinesischen Kulis geradezu haufenweise nach Deutschland schleppen.

Man muß sich fragen, was für ein christliches Menschenbild das Zentrum hatte, um solche diskriminierenden und nationalistischen Äußerungen zu rechtfertigen. Man könnte ihm höchstens zugute halten, daß Rom, an dem sich das Zentrum orientierte, damals noch nicht die klaren, migrationsfreundlichen Erklärungen abgegeben hatte, wie wir sie aus den letzten Jahren und Jahrzehnten kennen.

2.2. MIGRATION UND KIRCHE

2.2.1. DIE ALLGEMEINE MOBILITÄT

1978 hat Rom einen höchst bedeutsamen Versuch gemacht, die heutige Welt unter der Kategorie "Mobilität" zu verstehen und sie mit der Vision von der Einheit der Menschheit in Verbindung zu bringen. Da dieses päpstliche Schreiben mit dem bezeichnenden Titel "Kirche und Menschen unterwegs" an alle Bischofskonferenzen der Welt gerichtet ist, kommt ihm eine hohe Verbindlichkeit zu (Vatikanstadt,1978). Dies gilt trotz der Tatsache, daß eine breitere Rezeption der in dem Dokument enthaltenen Gedanken bis heute aussteht.

Die Mobilität in der Welt wird ebenso als Ursache wie als Auswirkung des technischen und wissenschaftlichen Zeitalters betrachtet und als Phänomen gewertet, das eine rapide und tiefe Veränderung in allen Kontinenten hervorruft. Als eine der wichtigsten Ursachen wird die Entwicklung der internationalen Beziehungen betrachtet, die eine Interdependenz und zwar vor allem auf wirtschaftlichem Gebiet geschaffen habe. Die Ambivalenz der erhöhten Mobilität zeigt sich vor allem darin, daß sie das Ergebnis einer ungleichen Verteilung der Mittel auf Weltebene ist, insofern die Emigrationsländer vorwiegend die ärmeren und die der Immigration die Wohlstandsländer sind mit ihrer starken Konzentration der industriellen Kapazitäten. So gibt es für die Kirche keineswegs nur die freie, oder freiwillige Migration, sondern eben auch die erzwungene aus dem Bedürfnis nach Arbeit als Alternative zur Arbeitslosigkeit oder Unterbeschäftigung oder aus der Notwendigkeit, sich Regimen zu entziehen, die die Menschenrechte mißachten.

Insgesamt verfolgt die Kirche den Prozeß der Mobilisierung aber mit regelrechter Sympathie. Sie betrachtet ihn trotz der Einschätzung, daß eine erzwungene Migration mit unmenschlichen Folgen verbunden ist, letztlich als eine neue positive Phase der Menschheitsentwicklung: "Die Welt ist klein geworden, die Grenzen fallen, der Weltraum ist geschrumpft, Entfernungen verschwinden, das moderne Leben wirkt sich bis in die entlegensten Winkel der Welt aus." Mobilität wird zum Schicksal der Allgemeinheit, die Welt befindet sich in einem Umbruch, sie ist geradezu in eine neue geschichtliche Phase eingetreten. Die Kirche verbindet mit diesem Prozeß die Erwartung, .daß sich die Tendenzen einer politischen und rechtlichen Einheit der Menschheit (kirchlich: Menschheitsfamilie) immer mehr durchsetzen. Der Einheit der Menschheit fühlt sich die Kirche vom Wesen her in besonderer Weise verpflichtet und zwar vor allem dadurch, daß sie als weltweite und universale Organisation strukturell und weltanschaulich die Einheit der Menschheit bereits vorwegnehmen will und dieser Einheit als einer Angelegenheit des Friedens zu dienen bereit ist. Deshalb kann es der Kirche nicht darum gehen, gegen die Mobilisierung der Welt anzugehen. Diese Einstellung ist ziemlich erstaunlich, wenn man bedenkt, wie seßhaft und immobil sich die Kirche heute in geistiger und struktureller Hinsicht darbietet. Global gesehen geht es der Kirche darum, die Migration von ihren negativen Aspekten zu befreien und sie menschenwürdiger zu gestalten.

Die dramatischen Entwicklungen in der Welt haben der Kirche nichts von dem Optimismus genommen, den sie mit der Mobilisierung der Welt verbindet. Das belegt u.a. ein Zitat von Papst Johannes Paul II aus dem Jahr 1987. In seiner Botschaft zum Welttag der Migranten heißt es:

"Die Migrationen stellen heute ein Zusammentreffen der Völker dar. Durch sie können Vorurteile abgebaut werden, und Verständnis und Brüderlichkeit mit Blick auf die Einheit der Menschheitsfamilie reifen. Im Hinblick darauf sind die Migrationen der vorgerückte Punkt auf dem Weg der Völker hin zur universalen Brüderlichkeit. Die Kirche, die in ihrer Gemeinschaftsstruktur alle Kulturen aufnimmt, ohne sich mit einer zu identifizieren (vgl. hierzu: Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute, Nr. 42 u. 58) , stellt sich als wirksames Zeichen in die in der Welt bestehenden Vereinigungsbestrebungen... Durch die Migrationen ist die Gesellschaft ein Schmelztiegel der Rassen, der Religionen und Kulturen geworden, durch den man die neue, dem Menschen gerechte Welt erwartet, die auf Wahrheit und Gerechtigkeit gründet" (L'Osservatore Romano (D), Nr.38, 1987).

 

2.2.2. DAS RECHT AUF EINWANDERUNG

Die wichtigste sozial-ethische Forderung, die im Zusammenhang mit den weltweiten Migrationszwängen und -bewegungen erhoben werden müßte, ist die nach dem Recht auf Einwanderung. Hier stoßen wir aber nicht nur national sondern gerade auch international auf die Barriere des Nationalstaatsgedankens, der noch einmal eine Renaissance erfährt. Er wird sogar unter die Hauptursachen für die Entstehung der Flüchtlingsbewegungen gerechnet.

Völkerrechtlich gibt es das Recht auf Auswanderung, vor allem noch einmal kodifiziert in der KSZE-Schlußakte von Helsinki. Mit diesem Recht auf Auswanderung ist aber kein Recht auf Einwanderung in irgendeinen anderen Staat verbunden. Dies stellt ein Defizit dar auf dem Weg der Ausweitung der Menschenrechte oder überindividuell gesagt, auf dem Weg zur Weltgesellschaft und einer damit verbundenen Freizügigkeit.

Eine spezifisches Recht in ein anderes Land zu gehen, wird im Völkerrecht nur dem Flüchtling zugestanden, wobei es sich nicht um ein Recht auf Einwanderung handelt. Die Genfer Flüchtlingskonvention stellt mehr darauf ab, daß ein ankommender Flüchtling nicht in sein Heimatland zurückgeschoben wird, als daß ihm ein individuelles Recht auf Einwanderung eingeräumt wird. Ein solches individuelles, sogar einklagbares Recht auf Einwanderung hat Artikel 16 Grundgesetz für den politischen Flüchtling geschaffen.

Eine bestimmte Form grenzüberschreitender Freizügigkeit haben wir in der Europäischen Gemeinschaft, die dieses Privileg an das Vorhandensein eines Arbeitsplatzes und an die Zugehörigkeit zu einem der Mitgliedstaaten der EG knüpft. Auch hier gibt es allerdings die Tendenz, die Freizügigkeit zu einem Niederlassungsrecht auszuformen und dabei die Arbeitsmigranten und ihre Familien aus sogenannten Drittländern einzubeziehen. Diese sich in einem dynamischen Prozeß weiterentwickelnde Freizügigkeit ist vielleicht eines der wichtigsten Modelle auf dem Weg zu einer Weltgesellschaft, wenn ich davon absehe, daß dies alles unter dem Vorbehalt eines voll funktionierenden Arbeitsmarktes steht. Noch stärker konterkariert wird dieses Modell aber durch die eurozentristischen Vorstellungen der Abschottung nicht nur vor der Türkei, sondern vor allem vor Menschen der Dritten Welt und dies noch einmal speziell vor den Flüchtlingen.

In der Lehre der Katholischen Kirche gibt es - in der Kirche und Theologie der Bundesrepublik kaum wahrgenommen - eine Entwicklung auf eine Art Freizügigkeitsrecht im Sinne eines humanitären Anspruchs nicht nur auf Aus- sondern auch auf Einwanderung.

Von den infrage kommenden Texten seien nur drei erwähnt: In dem Dokument "Kirche und Menschen unterwegs" wird ein menschenrechtlicher Katalog aufgeführt, der über den internationaler Konventionen hinausgeht. Von der Menschenwürde und dem Ausschluß jeder Diskriminierung her werden folgende als universal, wesentlich und unwiderruflich bezeichnete Rechte abgeleitet: Das Recht, frei im eigenen Land zu leben, ein Heimatland zu besitzen, sich innerhalb des eigenen Landes frei zu bewegen, ins Ausland auszuwandern, sich dort aus legitimen Gründen niederzulassen, überall mit seiner Familie zusammenzuleben und über den Lebensunterhalt verfügen zu können. Die Erklärung geht auch auf die Frage ein, ob dies nicht eine Überforderung des Gemeinwohls eines bestimmten Staates darstellen könnte, indem sie die Umsetzung dieser Rechte in einen Gemeinwohlbegriff einfügt, der die ganze Völkerfamilie umfaßt und über jedem Klassen- und Nationalegoismus steht (a.a.O., Nr.17).

Fünf Jahre zuvor hatte es Johannes XXIII in einer Grundsatzäußerung bereits folgendermaßen formuliert: Zu den Rechten der menschlichen Person gehöre es auch, sich in diejenige Staatsgemeinschaft zu begeben, in der man hoffe, besser für sich und seine Angehörigen sorgen zu können. Es sei deshalb Pflicht der Staatslenker, ankommende Fremde aufzunehmen und, soweit es das wahre Wohl ihrer Gemeinschaft zulasse, dem Vorhaben derer entgegenzukommen, die sich einer neuen Gemeinschaft anschließen wollten (Pacem in terris, Nr. 106).

Johannes Paul II hat die reichen Länder gewarnt, das Migrationsproblem einfach zu ignorieren. Noch weniger dürften sie ihre Grenzen schließen und die Gesetze straffen; und zwar gerade deswegen nicht, weil der Unterschied zwischen den reichen und armen Ländern, durch den ja die Migration hervorgerufen werde, immer größer werde (Botschaft zum Welttag der Migranten 1987).

Mit dem letzten Hinweis können wir uns der Frage zuwenden, wie die Kirche ihre Forderung nach dem Recht auf Einwanderung begründet. Bei Johannes Paul II ist es an der genannten Stelle die Verantwortung, die sich aus dem sogenannten Verursacherprinzip ergibt. Aber dies könnte sicher nicht ausreichen, um eine auf das menschenrechtliche Niveau gehobene Forderung des Einwanderungsrechtes zu begründen.

Begründungen für das Recht auf Freizügigkeit:

Die Welt als Handlungsrahmen

Es ist eine theologische Binsenwahrheit, daß die Kirche die Welt als Handlungsrahmen hat und alle Fragen letztlich aus einer universalen Sicht betrachtet und beantwortet. Dennoch gibt es auch für sie perspektivische Öffnungen, wie sie sich etwa in der Aussage von Johannes Paul II niederschlagen, wenn er sagt, daß die Lehrtätigkeit der Kirche zunächst vor allem auf die gerechte Lösung der sogenannten Arbeiterfrage im Rahmen der einzelnen Nationen konzentriert ist, dann aber ihre Blickrichtung auf die ganze Welt ausweitet (Laborem exercens, Nr. 2). Im Grunde wird der Weltcharakter der kirchlichen Soziallehre aber auch in allen bisher genannten Lehräußerungen deutlich.

Die Welt als Allgemeinbesitz

Daß die Welt Besitz aller Menschen ist, gehört zur frühen Lehre der Kirche. Hierfür nur ein Beispiel : Ambrosius, Kirchenlehrer und Bischof von Mailand hat im 4. Jahrhundert gelehrt: "Der Herr hat gewollt, daß diese Erde der gemeinsame Besitz aller Menschen sei und daß ihre Früchte allen gehören." Nach Pius XII hat jeder Mensch als vernunftbegabtes Wesen von Natur grundsätzlich das Recht der Nutzung an den materiellen Gütern der Erde (Pfingstbotschaft 1941). Auch, wo Rerum novarum das Privateigentum sehr stark verteidigt, "hört der Erdboden nicht auf, der Gesamtheit zu dienen" (a.a.O., Nr.7). Das II. Vatikanische Konzil unterstreicht, daß Gott die Erde mit allem, was sie enthält, zum Nutzen für alle Menschen und Völker bestimmt hat; darum müßten die geschaffenen Güter in einem billigen Verhältnis allen zustatten kommen (Gaudium et spes, Nr. 69). So kann Johannes Paul II in seiner Enzyklika davon ausgehen, daß das Prinzip der gemeinsamen Nutznießung der Güter ein "Grundprinzip der ganzen sozial-ethischen Ordnung" ist. Dieses Nutzungsrecht wird auch als grundsätzlich individuelles verstanden, daß durch nichts, auch nicht durch andere unbezweifelbare friedliche Rechte auf die äußeren Güter aufgehoben werden kann (Pius XII, Pfingstbotschaft 1941). Die Enzyklika Laborem exercens verweist darauf, daß die christliche Tradition das Recht auf Eigentum nie als absolut und unantastbar betrachtet. Ganz im Gegenteil, sie hat es immer im größeren Rahmen des gemeinsamen Rechtes aller auf die Nutzung der Güter der Schöpfung insgesamt gesehen: Das Recht auf Privateigentum als dem gemeinsamen Recht auf Nutznießung untergeordnet, als untergeordnet der Bestimmung der Güter für alle (a.a.O., Nr.14).

Weltweite Interdependenz

Ein weiterer Gedanke lehramtlicher Äußerungen für ein Recht auf Freizügigkeit ist die Feststellung, daß wir es mittlerweile mit einer wirtschaftlichen Interdependenz, d.h. mit gegenseitigen Abhängigkeiten zu tun haben, "weshalb es heute schwer wäre, bei irgendeinem Staat, und sei er auch wirtschaftlich der mächtigste, von voller Selbstversorgung, von Autarkie, zu sprechen" (a.a.O., Nr.17). Der Papst betrachtet ein solches System gegenseitiger Abhängigkeiten als an sich etwas Normales. Positiv ergibt sich aus der Interdependenz die Notwendigkeit einer weltweiten Zusammenarbeit "mit dem Ziel freizügigen Austauschs von Informationen, Kapital und Arbeitskräften zum größten Nutzen aller Beteiligten" (Mater et magistra, Nr. 192).

Wirtschaftsgefälle und Solidarität

Die Kirche kann natürlich nicht von der wachsenden Interdependenz sprechen, ohne sie in die Frage nach der Solidarität angesichts des Wirtschaftsgefälles einzubeziehen. Johannes Paul II läßt, wie auch sein Vorgänger, fast keine Gelegenheit aus, um auf dieses Problem einzugehen. Er umschreibt es in der Enzyklika als erschütternde Tatsache ungeheueren Ausmaßes: "Während einerseits beträchtliche Naturschätze ungenützt bleiben, gibt es andererseits Scharen von Arbeitslosen und Unterbeschäftigten und ungezählte Massen von Hungernden, eine Tatsache, die zweifelsfrei bezeugt, daß im Innern der einzelnen politischen Gemeinschaften, wie auch in den Beziehungen zwischen ihnen auf kontinentaler und globaler Ebene hinsichtlich der Organisation der Arbeit und der

Beschäftigung irgend etwas nicht funktioniert, und zwar gerade in den entscheidenden und sozial wichtigsten Punkten (a.a.O.,Nr.18). 20 Jahre zuvor hatte dazu Johannes XXIII gesagt, die Solidarität aller Menschen und erst recht die christliche Brüderlichkeit verlangten dringend vielfache praktische Hilfe zwischen den Völkern. Aus einer solchen Hilfe erwachse nicht nur ein reger Austausch an Gütern, an Kapital und Menschen, sie vermindere auch die Ungleichheit zwischen den verschiedenen Ländern (Mater et magistra, Nr.155). Solidarität und christliche Brüderlichkeit spielen naturgemäß in unserem Kontakt eine entscheidende Rolle. Darauf konnte hier nur kurz hingewiesen werden.

Gemeinwohl

Zwei der früher genannten Texte, die das Recht der Einwanderung fordern, setzen eine Grenze, und zwar die des Gemeinwohls. In kirchlicher Definition ist Gemeinwohl die Gesamtheit jener Bedingungen des sozialen Lebens, die sowohl den Gemeinschaften, als auch deren einzelnen Gliedern ein volleres und leichteres Erreichen der eigenen Vollendung ermöglichen (Gaudium et spes, Nr. 26). Aber auch hier sprengt die kirchliche Auffassung den nationalen Rahmen, insofern aus der von Tag zu Tag engeren und allmählich die ganze Welt umspannenden gegenseitigen Abhängigkeit das Gemeinwohl heute mehr und mehr eine weltweite Dimension annimmt. Das Gemeinwohl begreift deshalb auch Rechte und Pflichten gegenüber dem ganzen Menschengeschlecht in sich. Daher muß jede Gemeinschaft die Bedürfnisse und berechtigten Ansprüche anderer Gemeinschaften, ja das Gemeinwohl der ganzen Menschheitsfamilie berücksichtigen.

Die Rechte des einzelnen und der Familie

Bei der Umschreibung des Gemeinwohls ist darauf zu achten, daß nicht nur von den Belangen der Gemeinschaften die Rede ist, sondern auch von denen der einzelnen Glieder. Diese Komponente wird in den kirchlichen Lehrverlautbarungen immer stark betont, nicht im Sinne eines schrankenlosen Individualismus, sondern in einem personalen, auf Gemeinschaft, vor allem auf Familie bezogenen Sinn. Deswegen möchte ich noch einige Elemente nennen, die für die Begründung des Rechts auf Freizügigkeit von Bedeutung sind; formuliert sind sie aus der Sicht der Menschenwürde des einzelnen und der Familie.

Das Recht auf angemessene Existenz

Für die Kirche ist es ein Menschenrecht, über das Lebensnotwendige verfügen zu können (Kirche und Menschen unterwegs, Nr. 17). Das heißt, es steht allen Menschen das Recht zu einen für sie selbst und ihre Familien ausreichenden Anteil an den Gütern zu haben (Gaudium et spes, Nr. 69). Das letzte Konzil scheut sich an dieser Stelle nicht, den normalerweise unter Verschluß gehaltenen Giftschrank moraltheologischer Notstandsgesetze zu öffnen, wenn es dem, der in äußerster Notlage ist, das Recht zugesteht, "vom Reichtum anderer das Benötigte an sich zu bringen". Was könnte das für uns heißen, wenn wir davon ausgehen müssen, daß hundert Millionen von Menschen in der Welt in dieser äußersten Notlage sind ? Hier genügt als Perspektive vielleicht ein Satz aus der Rede Papst Johannes Paul II bei- seiner Deutschlandsreise in Mainz, wo er wörtlich sagt: " Auf Dauer wird sich kein wohlhabendes Land vor dem Ansturm so vieler Menschen, die wenig oder gar nichts zu leben haben, abriegeln können" (Papst Johannes Paul II in Deutschland, S. 94). Kein moralisches Notstandsgesetz ist es, wenn aufgrund der Tatsache, daß die Erde dafür da ist, um jedem die Mittel für seine Existenz und seine Entwicklung zu geben, jedem Menschen das Recht zusteht, auf ihr das zu finden, was er nötig hat (Populorum progressio, Nr. 22).

Das Recht auf Arbeit

Die menschliche Arbeit ist ein "Grundrecht aller Menschen" so die Enzyklika "Laborem exercens" (Nr. 18). Nach Papst Paul VI hat jeder Mensch das Recht auf Arbeit, auf Gelegenheit, die ihm eigenen Anlagen und seine Persönlichkeit in Ausübung eines Berufes zu entfalten, sowie auf gerechten Lohn, der ihm gestattet, sein und der Seinigen materielles, soziales, kulturelles und spirituelles Dasein angemessen zu gestalten (Octogesima adveniens, Nr. 14).

Familienrechte

Ein Schwerpunkt lehramtlicher Äußerungen ist seit eh und je die Sorge um die Familie. Nach Laborem exercens bildet die Arbeit eine Grundlage für den Aufbau des Familienlebens, welches ein Recht und eine Berufung des Menschen ist (Nr. 10). Wie den vorher zitierten Texten zu entnehmen ist, ist das Recht auf Freizügigkeit nicht nur dem einzelnen für die Familie verantwortlichen Arbeitnehmer zugestanden, sondern auch und gerade der Familie, sei es in dem Sinne, daß die Familie als solche auswandert und das Recht hat, als Familie aufgenommen und respektiert zu werden, sei es, daß ein Arbeitnehmer emigriert und das Recht hat mit seiner Familie im Aufnahmeland zusammenzuleben. Die Rechte der Familie: Vor allem das Recht auf Familie, das Recht mit der Familie zusammenzuleben und das Recht auf Familienzusammenführung sind Rechte, die für die Kirche als Menschenrechte unverzichtbar sind. Sie gehören als integraler Bestandteil zu dem Recht auf Aus- und Einwanderung. "Alle im Aufnahmeland, namentlich aber die öffentlichen Stellen, dürfen sie (die Arbeitsmigranten) nicht als bloße Produktionsmittel behandeln, sondern haben ihnen als menschliche Personen zu begegnen und sollen ihnen helfen, ihre Familien nachzuziehen (Gaudium et spes, Nr. 66).

3. DAS MEMOMRANDUM ZUR WELTFLÜCHTLINGSPROBLEMATIK

Kommen wir nach diesen Überlegungen über die Zuwanderungsrechte von Menschen und Familien auf unsere speziellen Anfragen durch die Ausländer, Aus- und Übersiedler und Flüchtlinge zurück. Und zwar will ich nun versuchen, mit einem weiteren Ansatz eine menschengerechtere Einordnung der anstehenden Herausforderung vorzunehmen. Dieser Ansatz ist ein wissenschaftlicher, der sich aber weitgehend mit dem kirchlich-theologischen deckt.

Der wissenschaftliche Beirat beim Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit hat 1989 ein " Memorandum zur Weltflüchtlingsproblematik" veröffentlicht, das neue und wichtige Aspekte für die politische Behandlung der Flüchtlings-, ja vielleicht der ganzen Zuwanderungsfrage bringt und geeignet ist, die Diskussion in der Bundesrepublik aus ihrer bedenklichen Engführung herauszuholen (BMZ-aktuell, Bonn, 1989).

Das Memorandum, an dem 23 Wissenschaftler aus den verschiedensten Disziplinen beteiligt haben, geht davon aus, daß die Flüchtlingsproblematik seit Beginn der 70er Jahre eine neue Dimension angenommen habe. Während immer noch die damit aufgeworfenen humanitären und rechtlichen Fragen im Vordergrund stünden, verlangten die politischen und wirtschaftlichen Dimensionen größere Aufmerksamkeit.

Die vom UNHCR angegebenen offiziellen Flüchtlingszahlen von ca. 15 Mio. werden als der untere Rand im Spektrum internationaler Schätzungen angesehen. Erwähnt werden Zahlen des Forschungsinstituts des Roten Kreuzes in Genf, das für die Mitte der 80er Jahre eine halbe Milliarde Flüchtlinge errechnete, die sich bei anhaltendem Trend bis zum Ende des Jahrtausends auf ca. eine Milliarde erhöhen könnten.

Die Differenzen ergeben sich nach dem Memorandum aus dem unterschiedlichen Flüchtlingsbegriff, der zugrunde gelegt wird. Der Hohe Kommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR) orientiert sich an der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951, die nur jene Menschen als Flüchtlinge anerkennt, die "aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung die Grenzen ihres Heimatstaates überschreiten und in anderen Staaten Zuflucht suchen". Diese Definition muß als überholt betrachtet werden. Experten weisen darauf hin, daß sie historisch bedingt sei und vornehmlich die Situation Europas nach dem 2. Weltkrieg widerspiegele.

Das Memorandum referiert die Expertenthese, daß im Laufe der vergangenen Jahrzehnte ein neuer Typus von Flüchtlingen entstanden sei. Als Flüchtlinge müßten danach auch Menschen betrachtet werden, die fliehen vor einem allgemeinen Klima der Gewalt und Repression, vor lebensbedrohenden Bürgerkriegen, vor der Zerstörung des traditionellen Lebensraumes aufgrund schwerer ökologischer Belastung, oder vor unerträglich gewordenen Lebensbedingungen aufgrund von Überbevölkerung, Armut und Arbeitslosigkeit, die selbst wiederum ihre tieferen Ursachen in fallenden Rohstoffpreisen, nationaler Verschuldung, einer falschen Wirtschaftspolitik und all den anderen bekannten internen und externen Ursachen von Unterentwicklung haben.

Daher ist nicht zu leugnen, daß die in weiten Teilen der Öffentlichkeit gängigen Unterscheidungen zwischen "politischen" Flüchtlingen, "Armutsflüchtlingen", "Umweltflüchtlingen" und "Wirtschaftsflüchtlingen" problematisch sei, zumal gerade die Dialektik von politischer Gewalt und der Mißachtung von Menschenrechten einerseits und ökonomisch-sozialen Problemen andererseits nur allzu bekannt sei.

Dies ist in dem Lehrrundschreiben Johannes Paul II über "Die soziale Sorge der Kirche" von 1987 ähnlich analysiert. Auch dieses kommt im Zusammenhang mit der Weltwirtschaftskrise auf die Millionen Flüchtlinge in der Welt zu sprechen. Sie werden als Menschen bezeichnet, denen Kriege, Naturkatastrophen, Verfolgungen und Diskriminierungen aller Art Heim, Arbeit, Familie und Vaterland geraubt haben. Dies ist eine ebenfalls umfassende und weitgehende Definition des Flüchtlings. Wobei die Erweiterung, auf die besonders hinzuweisen wäre, die der Flucht wegen Naturkatastrophen darstellt. Rom macht sich also die Vorstellung zu Eigen, daß es den Umweltflüchtling gibt. Dies ist ein Begriff, der in der künftigen Diskussion noch eine entscheidende Rolle spielen dürfte, wenn die Folgen der ökologischen Krise immer größere Menschengruppen zwingen werden, ihre Heimat zu verlassen.

Weltweit werden die Umweltflüchtlinge auf 10 Millionen geschätzt, eine Zahl, die sich in den kommenden Jahren drastisch erhöhen dürfte. Die meisten Umweltflüchtlinge leben in Ländern der Dritten Welt. Neben den Naturkatastrophen, auf die der Mensch keinen Einfluß hat, werden es immer mehr solche, die auf die Umweltzerstörung, die Veränderung des Klimas, das Ansteigen der Temperaturen, die Ausbreitung der Wüsten u.ä. zurückgehen (Frankfurter Rundschau vom 3.1.1988).

Das Memorandum verweist dann auf einen dritten Aspekt der heutigen Flüchtlingsproblematik, nämlich den der geographischen Verlagerung von Europa auf die Dritte Welt. Afrika gilt heute als das Land mit den meisten Flüchtlingen. Ein weiterer Schwerpunkt sind Vorderasien und Mittelamerika.

Im Vergleich zu den verschiedenen Entwicklungsländern sei die Zahl der Flüchtlinge in Europa noch immer minimal und stelle angesichts des Wohlstands Westeuropas weder eine unerträgliche finanzielle Belastung noch eine Herausforderung des bestehenden Asylrechts dar. Trotzdem würden die Einreisemöglichkeiten beschränkt, Ausländer- und Asylgesetze verschärft, das Wort von der "Festung Europa" mache die Runde und füge dem Ansehen Europas schweren Schaden zu.

Der Wissenschaftsbeirat empfiehlt nun seinerseits im Wesentlichen entwicklungspolitische Konzepte, die vor allem darauf hinauslaufen, das Entstehen der Flüchtlingsbewegungen durch wirtschaftliche Maßnahmen und entsprechende politische Veränderungen zu verhindern. Ähnliche Konzepte werden auch gegenüber Osteuropa, gerade jetzt auch gegenüber Rumänien ins Auge gefaßt, um das Kommen hunderttausender Menschen zu verhindern. Dennoch bleibt für die Aussiedler und die Übersiedler das Tor auf, nicht aber für die Flüchtlinge aus der Dritten Welt.

4. SCHLUSS

Nimmt man den wissenschaftlichen Beirat und Rom ernst, wäre man in der Lage, die großen Wanderungsprozesse in der Welt und speziell die auf die Bundesrepublik gerichteten einzuordnen in eine Analyse der ökonomischen und ökologischen Problematik, oder anders gesagt in eine Analyse der Folgen einer Weltwirtschaft, die gewaltige Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten geschaffen hat. Deren Folge sind Völkerwanderungen, die im Extremfalle als überstürzte Fluchtbewegungen verlaufen und im günstigen Falle als Prozesse der Anwerbung von Arbeitskräften aus anderen Ländern. Die Bundesrepublik erlebt derzeit deutlicher denn je die Folgen eines Wirtschafts- und Freiheitsgefälles in der Form der Zuwanderung von Hunderttausenden von Menschen aus der DDR, aus Osteuropa und wesentlich geringer aus einigen Krisenregionen der Welt. (Von 100 Flüchtlingen in der Welt kommen bisher 5 nach Europa!)

Die Antwort auf diese Herausforderung wird mit unterschiedlichen politischen und rechtlichen Konzepten gegeben, wenn man denn die völlig offene Zuwanderung aus dem Osten Europas als Konzept verstehen will. Offen nach der einen Seite hin mit nationalen Vorstellungen von dem Recht auf Zuzug für Menschen aus der DDR und allen, die sich auf eine gewisse Deutschstämmigkeit berufen können. Abschottung vor einer Zuwanderung aus Polen, Jugoslawien und der Türkei, wo die Bundesrepublik durch die Aussiedler- und Anwerbepolitik eine umfassende Zuwanderung ausgelöst hat und schließlich eine Abschottung gegenüber den aus den Krisen- und Kriegsregionen zu uns flüchtenden Menschen, deren überwiegende Zahl als "Wirtschaftsflüchtlinge" tituliert und damit herabgewürdigt wird.

Die tägliche, politisch ohne Einschränkungen zugelassene Zuwanderung von 4.000 Menschen aus Osteuropa und der DDR und die täglich mit allen Mitteln der Politik, der Öffentlichkeitsarbeit, der Polizei, der Gerichte und der Behörden erschwerte Einwanderung von 150 Menschen aus Polen, Jugoslawien und der Türkei, die Zuflucht von abermals täglich 150 Menschen aus Kriegs- und Krisenregionen der Welt verlangen andere Maßstäbe zur Beurteilung der Zuwanderung. Nehmen wir die Prinzipien der Kirche und des Wissenschaftlichen Beirats zuhilfe, dann kommen wir weg von der derzeitigen messerscharfen Unterteilung der Zuwanderung in gewollte und nichtgewollte, in akzeptierte und abgelehnte, in begrüßte und diskriminierte. Wir müssen als Kirche und als Christen der Politik zu neuen Maßstäben verhelfen, die weniger aus einer Rangfolge nationaler oder blutsmäßiger Nähe erfolgt, sondern nach dem Grade der Bedrohung der Lebensrechte. Der machtvolle, ganze Imperien und Regime stürzende Ruf in der DDR und in Osteuropa "Wir sind das Volk", muß von uns aufgegriffen und zukunftsorientiert beantwortet werden: "Wir sind die Menschheit!". Wir dürfen nie mehr, komme, was wolle, komme, wer wolle, mit einem irgendwie gearteten neuen Nationalismus auf das antworten, was sich als neue Herausforderung stellt. Die Aussiedler und Übersiedler, die Ausländer und Flüchtlinge sind die Botschafter einer Welt, die eine neue Gerechtigkeit verlangt. Das ist alles nur der Anfang!