Herbert Leuninger

ARCHIV KIRCHE
1975

Ansprache beim Gottesdienst
am Fest der hl. Elisabeth am 19.11.1975
im Haus Maria-Elisabeth, Hofheim Ts.

"Mit dem Maß, mit dem ihr meßt, wird euch gemessen werden" Mt.7,2

DIE HAND

Herbert Leuninger hat über 25 Jahre im Seniorenheim Haus Maria-Elisabeth Gottesdienste gehalten und gepredigt. Das Haus wird von der Schwestern der hl. Elisabeth geleitet. Diese seelsorgerliche Tätigkeit erfolgte neben der Wahrnehmung der Aufgabe eines Migrationsreferenten des Bischofs von Limburg und des Sprechers der Menschenrechtsorganisation PRO ASYL. Die folgende Predigt wurde am 19. November 1975 zum Fest der hl. Elisabeth, der Patronin der Ordensgemeinschaft kurz nach der Eröffnung des Hauses gehalten.

Das Maß, mit dem heute gemessen wird, ist das Meter. Es ist von der Erde genommen und macht den vierzigmillionsten Teil des Erdumfangs aus. Das Urmaß, an dem jedes Metermaß zu messen ist, befindet sich in Paris.

Vor der Einführung des Metersystems gab es als Maße: die Elle, den Fuß, das Zoll. Man gab Entfernungen in Schritten an und sprach von einer Handbreit. Auf diese Weise maßen die Menschen alles nach ihren Maßen, genommen vom Ellbogen, vom Fuß oder von der Hand.

Der Charakter der Hand

Das menschlichste Maß ist nach wie vor die Hand. Sie ist ohnehin das wichtigste Gliedmaß und steht oft für die ganze Person. So schön und ausdrucksvoll ein Gesicht auch sein mag, ist die Hand eines Menschen vielleicht noch vielsagender. Nicht von ungefähr glaubt man, aus den Linien einer Hand untrüglicher als aus Antlitz Charakter und Entwicklung ersehen zu können.

Die Hand kann auch deswegen bedeutender sein als das Gesicht, weil sie Kraft, Hilfe und Liebe auf einen anderen Menschen überströmen läßt. Ich denke an eine sehr frühe Darstellung der hl. Elisabeth von Thüringen, von der mir besonders die Geste der Hand in Erinnerung geblieben ist. Feingliedrig schmal ist sie geöffnet auf hungernde Menschen hin. In dieser Hand liegt das Brot, welches Leben und Hoffnung bedeutet.

Zur Einweihung dieses Hauses, das neben dem Namen der Gottesmutter den der hl. Elisabeth trägt, wurde eine ungewöhnliche Einladung verschickt. Auf ihrer Vorderseite war der Grundriß des Hauses aufgedruckt, etwas, was einen Laien normalerweise nicht interessiert.

In diesem Fall muß er aber besondere Aufmerksamkeit erregen, weil er die stilisierte Form einer Hand hat. In diese Hand eingefügt sind die Umrisse eines Menschen, der in einem Sessel sitzt. Damit ist eindeutig die besondere Aufgabe des Hauses Maria-Elisabeth symbolisiert.

Diese Symbolsprache in einem modernen Bauwerk ist ungewöhnlich. Man könnte sagen, das Maß, nach dem dieses Haus entworfen wurde, ist die Hand, ein menschliches, ein humanes Maß. Wer sich in diesem Haus umsieht oder in ihm lebt, wird bestätigen, daß überall, bis in Details, versucht wurde, Maße zu finden, die auf die Situation älterer Menschen abgestimmt sind.

Dies ist im gewissen Sinne ungewöhnlich deswegen, weil Bauherren, kirchliche und weltliche, es für wichtiger halten, daß ein Bauwerk durch seine Höhe oder seinen Umfang imponiert. Es soll nach außen hin wirken und Macht, Ansehen und Einfluß kundtun.

Im Gegensatz zu solcher Repräsentation will dieses Haus sich an der schlichten Aufgabe der Hand orientieren, die sich zum andern hin ausstreckt, nicht um zu herrschen, sondern um zu dienen. Ein Bau kann selbstverständlich dies nur andeuten, er bietet die günstige Voraussetzung, er lädt zu einer solchen Haltung ein. Daß aber dieses Haus ein Haus bergender Hände ist, kann nur der lebendige Geist der hl. Elisabeth von Thüringen garantieren.

In dieser Feier wird das eucharistische Brot den meisten in die Hand gereicht. Christus - so kann man es deuten – gibt sich in unsere Hand als Brot des Lebens. Wir empfangen es nicht nur für unser eigenes Leben, sondern auch für das Leben der andern. Christus gibt sich in unsere Hand, aber nicht in eine geschlossene oder gar verkrampfte, sondern nur in eine offene!