Herbert Leuninger

ARCHIV MIGRATION
1975

HESSISCHER RUNDFUNK, Frankfurt/M.,
1 . Hörfunkprogramm, Sonntag, 27. April 1975
Sendereihe: "Aus Kirche und Welt"
Redaktion Norbert Kutschki

Sozialdienst für italienische Arbeitsmigranten

INHALT
BERICHT ÜBER EINE STUDIENTAGUNG DER ITALIENISCHEN SOZIALBERATER DES DEUTSCHEN CARITASVERBANDES UND ITALIENISCHER PARTNERORGANISATIONEN VOM 13.-17.4.1975 IN ROM


Die italienischen Sozialberater, die für ihre nach Deutschland emigrierten Landsleute tätig sind, erklären sich nicht mehr einverstanden mit einer Rolle, in der sie ihrer Erfahrung nach nur mehr „Löcher stopfen" und begrenzte, momentane Hilfe leisten. Damit könne, zwar den unmittelbaren Bedürfnissen der Arbeiter Rechnung getragen werden, zur Lösung der echten Probleme sei sie jedoch gänzlich ungeeignet. Sie fühlen sich von einer Gesellschaft in Dienst genommen, die für menschliche Existenznöte unvorstellbaren Ausmaßes verantwortlich ist, die entstandenen Probleme aber auf die Sozialdienste abschiebt, ohne die Ursachen der Arbeitswanderung anzugehen.

Diese aus einer tiefen Skepsis gegenüber der eigenen Funktion herrührende Kritik ist in einem Bericht enthalten, der auf einer Studientagung über "Die Sozialdienste und die Emigration" in Rom von den italienischen Sozialberatern des Deutschen Caritasverbandes vorgelegt wurde.

Solche Töne ließen aufhorchen und riefen bei dem einen oder anderen der deutschen Caritas-Repräsentanten Verwunderung hervor. Seit im Jahre 1956 die ersten fünf italienischen Sozialberater angestellt wurden, ist von Hunderten von Kollegen auch anderer Nationen unter höchstem, persönlichem Einsatz eine Arbeit geleistet worden, die alle Anerkennung verdient. Allein in den Jahren 1964 bis 1972 wurden für den Sozialdienst des Deutschen Caritasverbandes für die ausländischen Arbeitnehmer rund 62 Millionen Mark aufgewendet, von denen 41 Millionen Eigenleistungen waren, nicht zuletzt aus Kirchensteuermitteln, die von den ausländischen Arbeitern aufgebracht wurden. Und nun fragen die engagierten Mitarbeiter nach dem Sinn ihrer bisherigen und der Neuorientierung ihrer künftigen Tätigkeit!.

Unter den derzeit 115 Sozialberatern für Italiener hatte es über den Zeitraum eines halben Jahres heiße Debatten über diese Fragen gegeben, die sich dann in einem nahezu 30seitigen Dokument niederschlugen. Auf dem Hintergrund der derzeitigen Ausländerpolitik der Bundesrepublik und der Beschäftigungskrise, die unter den Ausländern überraschenderweise die Italiener am härtesten trifft, wird darin von einer Ausnutzung der ausländischen Arbeitnehmer gesprochen, die den Menschenrechten zuwiderlaufe. Damit wird eine Wirtschaftspolitik - auch der italienischen Regierung - angegangen, die Millionen von Menschen je nach den ökonomischen Bedingungen hin- und herschiebt. Diesen Zustand wollen die italienischen Sozialberater nicht mehr wie bisher einfach hinnehmen, sondern mit den Betroffenen an einer Änderung mitwirken.

So teilen sie in einer geradezu programmatischen Form mit, daß sie sich dazu entscheiden wollten, vorbehaltlos auf der Seite ihrer emigrierten Landsleute zu stehen. Das bedeute, sie an der Durchführung der Sozialdienste unmittelbar zu beteiligen, mit ihnen ihre Lage zu analysieren und ihre Fähigkeit zu fördern, sich politisch in die Arbeit der Parteien und Gewerkschaften, und zwar der deutschen und italienischen, einzuschalten. Selbst soll der Sozialdienst weder parteipolitisch noch gewerkschaftlich tätig werden, insofern ist auch nicht an eine Konkurrenz zu diesen politischen Kräften gedacht. Es geht vielmehr darum, im politischen Vorfeld der Bewußtseinsbildung zu dienen, was selbst wiederum als wichtiger politischer Beitrag angesehen wird.

Der Vorstoß der Sozialarbeit für die Ausländer in die politische Dimension ist ein unaufhaltsamer Prozeß. Auf der italienischen Seite schien man allerdings nicht darum zu wissen, daß es eine kürzlich verabschiedete Rahmenorientierung für den Sozialdienst des Caritasverbandes für ausländische Mitbürger gibt, in der eine Gemeinwesenarbeit vorgesehen ist. Was das heißt? Zitat: „Der Einzelne lernt größere Zusammenhänge zu erkennen, sich mit anderen #9; zu solidarisieren und auf diese Weise in einer Gemeinschaft an der Lösung gesellschaftlicher Konflikte mitzuwirken."