Herbert Leuninger

ARCHIV MIGRATION
1976


Stuttgarter Zeitung
vom 28. Juni 1976

Volkswirtschaftlich rentabel
Menschlich sehr bedenklich

INHALT
Gegen die Rückwanderungspolitik des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Filbinger (CDU) und die Pläne, das Rotationsprinzip einzuführen.

 

In seiner Regierungserklärung (vgl. Bericht vom 16.6.1976) hat Ministerpräsident Filbinger die bisherige Politik der Ausländerbeschäftigung als eine „Fehlentwicklung" bezeichnet, auf der zu bestehen falsch wäre. Daher propagiert er eine Rückwanderungspolitik, mit der eine Verringerung „der noch immer überhöhten Gastarbeiterzahl" erreicht werden soll. Damit zielt er auf den schwächsten Teil der Arbeiterschaft, um auf deren Schultern und Kosten eine Entwicklung zu korrigieren, für den ganz andere Kräfte in unserer Gesellschaft die Verantwortung tragen. Die Wirtschaft hat Millionen Arbeitskräfte benötigt und die Bundesregierung hat sie nach Deutschland gerufen. Die ausländischen Arbeiter haben einen entscheidenden Anteil daran, daß in unserer Gesellschaft ein sehr hoher Lebensstandard erreicht wurde.

In der Rezession haben mehr als 500.000 von ihnen ihren Arbeitsplatz verloren. Das trotz der Wirtschaftskrise politisch und ökonomisch stabilste Land der westlichen Welt, hat mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln versucht, möglichst viele ausländischen Arbeiter loszuwerden, eine halbe Million Arbeitskräfte in Länder mit noch höherer Arbeitslosigkeit zu exportieren. Dahinter steht kein eigentlicher Fremdenhaß, sondern eine nüchterne Kalkulation. Die völlige Eingliederung der integrationswilligen ausländischen Familien ist sehr kostspielig. Auch sieht man wegen der Mängel in der schulischen und beruflichen Ausbildung der ausländischen Jugendlichen größte soziale Probleme auf sich zukommen. All dies soll ebenfalls exportiert werden. Hier gilt das Verursacherprinzip halt einmal nicht.

Die Sorge, es könnten zu viele Ausländer Deutschland verlassen, hat Ministerpräsident Filbinger nicht. Es sind ja die arbeitslosen Jugendlichen da, die die anstrengenden, ungünstigen, schlechter entlohnten und wechselschichtigen Arbeitsplätze einnehmen werden. Wenn der Bedarf an Arbeitskräften aber absolut nicht mehr aus dem Inland abgedeckt werden kann, lassen sich frische, unverbrauchte, junge und gesunde Arbeitskräfte aus dem Ausland beliebig anwerben. Für sie gibt es dann nur eine Bedingung: fünf Jahre Arbeit in der Bundesrepublik (ohne Familie) und dann wieder zurück. Das ist der Vorschlag der baden-württembergischen Denkschrift. Es wäre die Einführung der Rotation, die volkswirtschaftlich rentabelste Lösung und die menschlich bedenklichste.

H. Leuninger, Hofheim