Herbert Leuninger

ARCHIV MIGRATION
1976

Die Bundesrepublik Deutschland -
ein Einwanderungsland

Rede zur Eröffnung des "Internationalen Familienzentrums", Frankfurt/M. am 18. August 1976

INHALT

Kein Einwanderungsland!

Nach offiziellen Äußerungen ist die Bundesrepublik kein Einwanderungsland. Es wird darauf hingewiesen, daß es ein Ausländerrecht mit Einbürgerungsmöglichkeiten, aber keine eigentlichen Einwanderungsgesetze gibt. So betrachten die Politiker und vor allem auch die Behörden die Anwesenheit der ausländischen Arbeiter und ihrer Angehörigen als prinzipiell vorübergehend.

Wie wirkt sich das aus ? Nach langen Bemühungen ist es einer türkischen Familie gelungen, daß ihr gehörloses Kind in die Sonderschule für Gehörlose in Friedberg aufgenommen wird. Der Landeswohlfahrtsverband Hessen ist bereit, die Kosten der Unterbringung zu übernehmen. Dies wird der Familie als Niederlassungsabsicht ausgelegt. Der Landrat des Landkreises Darmstadt schreibt den Eltern: "Ich bedauere Ihnen mitteilen zu müssen, daß ich wegen Ihrer und Ihres Kindes Niederlassungsabsichten nicht in der Lage sein werde, Ihre Aufenthaltserlaubnisse für die Bundesrepublik Deutschland zu verlängern. Dies wird Ihnen heute schon mitgeteilt, damit Sie sich auf die Rückkehr in Ihr Heimatland einrichten können".

Zwei weitere Beispiele aus der Behördenpraxis, die mir gesprächsweise kürzlich bekannt geworden sind:

Ein etwa 27-jähriger Spanier befindet sich seit mehr als 10 Jahren in Wetzlar. Er besitzt eine unbefristete Arbeitserlaubnis. Nicht erhalten hat er bisher - was durchaus möglich gewesen wäre - eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis. Dieser junge Mann ist seit November 1975 krank und arbeitslos. Eine Umschulung ist vorgesehen, sobald er wieder gesund ist. Nun mußte er die Aufenthaltserlaubnis verlängern lassen. Er erhielt eine Verlängerung und zwar für drei Monate. Dieser spanische Arbeiter ist tief resigniert: "Ich habe alle Lust verloren, mich umschulen zu lassen."

Eine spanische Familie befindet sich seit 15 Jahren in Deutschland. Der Vater arbeitet seit dieser Zeit bei der gleichen Firma. Er und seine Frau besitzen eine unbefristete Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis. Eine mögliche Aufenthaltsberechtigung, die die Möglichkeit des Verbleibs in Deutschland erheblich verbessern würde, wurde nicht gewährt. Auch hier ging es um eine Aufenthaltserlaubnis und zwar für einen der Söhne. Die Verlängerung erfolgt für ein Jahr. Der Vater faßt in einem Satz die existentielle Unsicherheit - nicht nur seiner Familie - sondern im Grunde Hunderttausender ausländischer Familien zusammen: "Wenn wir wüßten, daß wir hier bleiben können !"

Auf den Koffern sitzend

Wer seit 5 Jahren legal in der Bundesrepublik ist, kann nach dem Gesetz eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis erhalten. Sie kann aber auch ohne besonderen Grund verweigert werden. Nach wissenschaftlichen Schätzungen erfüllt eine Million Ausländer die Voraussetzung für eine solche unbefristete Aufenthaltserlaubnis, aber nur etwa 4.500 wurde sie erteilt. Ohne eine Absicherung in dieser Art sitzen die Ausländer im Grunde auf ihren Koffern, eine Situation, die es ihnen unmöglich macht, eine sinnvolle Zukunfts- und Bildungsplanung vorzunehmen.

Ausweisungsgründe

Nach einem Erlass des Hessischen Ministers des Innern vom 13.1.1975 kommt bei arbeitslosen Ausländern, die kein Arbeitslosengeld mehr beziehen und auf Sozialleistungen angewiesen sind, nach einem zwei- bis dreimonatigem Bezug von Sozialhilfe die Ausweisung in Betracht. Diese Regelung gilt bundeseinheitlich. Vielleicht erklärt dies den mysteriösen Anruf, den ein spanischer Kollege von einem deutschen Gastwirt erhielt: In seinem Restaurant befinde sich ein Spanier, der mit seiner Familie ausgewiesen sei und die Bundesrepublik sofort verlassen müsse. Als der Pfarrer den Spanier selbst zum Telefon bitten läßt, wird der Hörer aufgelegt. Vermutlich wollte der Spanier auf keinen Fall seine Anonymität aufgeben. Vielleicht hatte er sich entschlossen, in die Illegalität mit all ihren bitteren Folgen zu gehen.

Familientrennung

Deutschland ist regierungsamtlich kein Einwanderungsland. Ein Erlaß des Bayerischen Staatsministers des Innern vom 12.1.1976 will den Familiennachzug erst nach 3 Jahren ermöglichen und dies unter sehr erschwerten Voraussetzungen. So können z.B. Eltern von der Ausländerbehörde wegen amtlich festgestellter unzulänglicher Infrastruktur aufgefordert werden, Kinder unter 16 Jahren, die ihren Eltern nachgereist sind, wieder zurückzuschicken. Weigern sich die Eltern dies zu tun, wird ihre Aufenthaltserlaubnis nicht mehr verlängert.

Zu diesem Erlass nimmt das Kirchliche Außenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland folgendermaßen Stellung: "Durch die Migration und die dadurch für die Familien notwendig gewordene Trennung sind bereits sehr viele Ehen zerstört worden. Es ist nicht verantworten, wenn das Scheitern von Ehen ausländischer Arbeitnehmer durch staatliche Richtlinien noch gefördert wird."

Baden-Württembergs Denkschrift

Wir haben es mit Strategien zu tun, die zu verhindern suchen, daß die Bundesrepublik ein Einwanderungsland wird. Am klarsten ist eine solche Strategie von Baden-Württemberg in einer besonderen Denkschrift formuliert worden.

Die Denkschrift verurteilt die bisherige Ausländerpolitik in der Bundesrepublik, die in eine Sackgasse geführt habe. Es sei ein ungebremster Zustrom ausländischer Arbeitnehmer zugelassen worden, der zusammen mit einem verstärkten Familiennachzug und größerer Verweildauer zu einer faktischen Einwanderung geführt habe. Beachten Sie bitte diesen Begriff von der faktischen Einwanderung. An anderer Stelle heißt es, es müsse vor allem von der Praxis der faktischen Einwanderung abgegangen werden. Der Grund: Weder die Bundesrepublik noch ein dicht besiedeltes Land wie Baden-Württemberg könne die Aufgabe eines Einwanderungslandes erfüllen. Nirgends allerdings wird in der Denkschrift erläutert, was es bedeutet, ein Einwanderungsland zu sein und wo die quantitativen und qualitativen Grenzen für die Aufnahmefähigkeit eines Gebietes bzw. eines Landes liegen. Der Begriff "Einwanderungsland" wird vielmehr als ausländerabwehrende Horror-Formel benutzt. Die jüngste Regierungserklärung von Ministerpräsident Filbinger bezeichnet die bisherige Ausländerpolitik als eine "Fehlentwicklung", auf der zu bestehen falsch wäre. Daher setzt er sich für eine Rückwanderungspolitik ein, mit der eine Verringerung "der noch immer überhöhten Gastarbeiterzahl" erreicht werden soll.

Rückwanderungspolitik

Rückwanderungspolitik ist das Schlagwort, das eine Wende in der Politik der Ausländerbeschäftigung anzeigt. Diese Wende setzte mit dem Beginn der Rezession ein, ohne aber von ihr direkt eingeleitet worden zu sein. Sie gilt nicht nur für Baden-Württemberg, sondern für die ganze Bundesrepublik. Die Rezession, die als "Rezessiönchen" aufgefaßt wurde, galt als willkommene Gelegenheit, die Zahl der ausländischen Arbeiter drastisch zu verringern. Dafür gab es verschiedene Gründe, vor allem einen volkswirtschaftlichen.

Im Mai 1974 wurde die Stellungnahme des wissenschaftlichen Beirates beim Bundesministerium für Wirtschaft veröffentlicht, in der folgende These aufgestellt wird: "Obwohl die ausländischen Arbeitskräfte ebenso wie die deutsche Bevölkerung aus ihren Einkommen Steuern und andere öffentliche Abgaben zur Finanzierung öffentlicher Güter und Leistungen aufbringen, übersteigen ihre Beiträge zu den öffentlichen Einnahmen nunmehr die von ihnen verursachten Ausgaben nicht mehr, sondern bleiben eher dahinter zurück." Diese Formulierung, der keine Zahlenangaben hinzugefügt wurden, ist nichts mehr als eine Vermutung, die dadurch, daß sie von Wissenschaftlern angestellt wird, wissenschaftlichen Rang bekommt und als Glaubenssatz übernommen wird.

Dieses Gutachten hat seine Wirkung nicht verfehlt .In dem ominösen Bonner Regierungsentwurf von "Thesen zur Ausländerpolitik", wurden von Regierungsseite erstmals die ausländischen Arbeiter und ihre Familien einer Kosten-Nutzen-Rechnung unterworfen. Die gesamtwirtschaftlichen Interessen der Ausländerbeschäftigung rücken über den bisher an die Spitze gestellten sozialen und gesellschaftlichen Erfordernissen der ausländischen Arbeiter an die erste Stelle So geht es seit dieser Zeit mehr um die Erleichterung der Rückkehr als um die bisher betonte Erleichterung der Eingliederung.

Export von Arbeitslosigkeit

Die 17 Thesen sind zwar vom Tisch genommen worden, der Geist, aus dem heraus sie entstanden sind, ist aber weiterhin lebendig. Er kommt zum Ausdruck in einer Presseerklärung des Parlamentarischen Staatssekretärs im Bundesministerium für Arbeit, Hermann Buschfort, die dieser am 10. Juli 1976 abgegeben hat und in der die Förderung der Rückkehrbereitschaft vor die Maßnahmen zur sozialen Integration gerückt wurde. Nicht hier, aber bei einer anderen Gelegenheit hat Buschfort dann präzisiert, was eigentlich damit gemeint ist. Es geht darum, die Zahl der ausländischen Arbeitnehmer auf 1,5 Mio zu senken, natürlich auf freiwilliger Basis! Nachdem bereits mehr als eine halbe Million ausländischer Arbeiter im Zusammenhang mit der Rezession ihre Arbeitsplätze räumen mußten, schickt sich das wirtschaftlich und sozial stabilste Land der westlichen Welt an, mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln weitere 500.000 Arbeiter aus anderen Ländern über die Grenze zurück zu schicken. Damit exportiert die Bundesrepublik Arbeitslosigkeit, und zwar in Länder, die wirtschaftlich äußerst schwach sind.

Der Reifegrad der Einwanderung

Es geht aber nicht nur um das zweifelhafte Loswerden von Arbeitsuchenden. Die Rückwanderungspolitik richtet sich gegen den Integrationsprozess ausländischer Familien. Ihre völlige Eingliederung wird unter dem Gesichtspunkt der mangelnden Infrastruktur als zu kostspielig angesehen. Auch glaubt man, daß die Mängel in der schulischen und beruflichen Ausbildung der ausländischen Jugendlichen zu größten sozialen Problemen und Spannungen in der nächsten Dekade führen könne. Derartigen Problemen soll dadurch ausgewichen werden, daß auch sie in andere Länder exportiert werden. Die Politik der Ausländerdezimierung ist eine immense Manipulation mit Menschen zugunsten nationalistischer und ökonomischer Interessen. Dennoch ist sie zum Scheitern verurteilt.

Zwar ist es ihr bisher gelungen, den Erfolg von Integrationsmaßnahmen zu sabotieren. Der langwierige Integrationsprozess ist durch die permanente Verunsicherung der Ausländer um wenigstens 10 Jahre zurückgeworfen worden. Die Auswirkungen dieser Politik müssen als verheerend bezeichnet werden. Dennoch wird das Ziel nicht erreicht, mögen die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kräfte auch noch so stark sein, die eine solche Ausländerpolitik unterstützen. Das Mißlingen ist deswegen bereits abzusehen, weil die Immigration einen Reifegrad erreicht hat, der im Wesentlichen nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. "Teilerfolge" sind sicher möglich. Ein globaler Erfolg der Rückwanderungspolitik wäre aber nur erreichbar mit wesentlich schärferen administrativen Maßnahmen, die polizeistaatlichen Charakter annehmen müßten! Etwa im Sinne der Forderung des englischen Rechtsextremisten Powell, der für die Asiaten in England eine massive Repatriierung fordert. Maßnahmen dieser oder ähnlicher Art lassen sich aber vor der kritischen internationalen Öffentlichkeit kaum durchsetzen und würden das sozial- und rechtsstaatliche demokratische Modell Bundesrepublik Deutschland in schweren Mißkredit bringen. Nach meiner Überzeugung ist die internationale Plattform im Augenblick der vielleicht stärkste Schutz für die Integrationsinteressen der ausländischen Arbeiter und ihrer Angehörigen.

Eine Million Kinder

Deutschland ist nach 20 Jahren Ausländerbeschäftigung seit dem zweiten Weltkrieg zum Einwanderungsland geworden. Trotz der halben Million ausländischer Arbeiter, die nicht mehr im hiesigen Arbeitsprozess stehen, hat die ausländische Wohnbevölkerung nach den zuletzt erreichbaren Zahlen vom September 1974 bis zum September 1974 nur um 0,9% abgenommen und bewegt sich um die 4 Millionengrenze. Nahezu zwei Drittel der Ausländer sind bereits über 4 Jahre in der Bundesrepublik, 20% von ihnen sogar mehr als 10 Jahre Zu diesem Personenkreis gehören vor allem die ca. 1 Million Kinder und Jugendliche, die hier geboren wurden oder aufgewachsen sind. Für sie ist Deutschland die Heimat, und eine Rückkehr in das Ursprungsland ihrer Eltern wäre eine Art Auswanderung. Würde sie erzwungen, käme dies sogar einer Vertreibung gleich

Ja zur Einwanderung

Interessanterweise heißt es in Überlegungen zu einem Modellprogramm "Weiterbildung für ausländische Arbeitnehmer" des Bundeswissenschaftsministeriums, daß die Zahl von 2 Millionen ausländischen Arbeitnehmern mit weiteren 2 Millionen Familienangehörigen auch in den nächsten Jahren in etwa konstant bleiben dürfte. Doch dann kommt der Satz, der die ganze Misere deutscher Ausländerpolitik schlagartig beleuchtet: "Wenn auch z.Zt. keine eindeutige Entscheidung in der Integrationsfrage möglich und sinnvoll ist, sind doch in jedem Fall vermehrt Anstrengungen erforderlich, um die Situation der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familien in der Gesellschaft der Bundesrepublik zu verbessern." Warum - so muß man fragen - sollte eine eindeutige und klare Entscheidung für die Integration der bereits hier ansässigen ausländischen Wohnbevölkerung nicht möglich sein?

Der Hessische Landesausschuss zur sozialen Integration der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen, der vom Sozialminister gebildet wurde, bereitet eine Entschließung mit dem Titel vor: "Hessen und seine ausländischen Mitbürger". Der Entwurf, maßgeblich erarbeitet von Vertretern des DGB, - und dies ist ein sehr bedeutsamer Vorgang - fordert die Landesregierung auf, den Weg zur sozialen Integration der ausländischen Arbeitnehmer unbeirrt fortzusetzen und die Integrationswilligkeit und -fähigkeit zu fördern. In diesem Entwurf ist das politische Reizwort "Einwanderungsland" nicht enthalten. Das ist auch nicht entscheidend. Die vertretene Sache kommt aber, und zwar für die bereits hier lebenden Ausländer, auf das Gleiche hinaus. Aufgrund des Zusammenwachsens der deutschen und ausländischen Wohnbevölkerung sieht der Hessische Landesausschuss keine andere Alternative als das Angebot zur Integration. Dieses Angebot soll im einzelnen enthalten:

  • die Schaffung einer ausreichenden Infrastruktur;
  • die Aufhebung des Zuzugstopps;
  • die Absicherung von Arbeitsplatz- und Aufenthaltsstatus;
  • eine auf die Integration der ausländischen Kinder und Schüler vorzunehmende Umstellung im vorschulischen und schulischen Bereich.
  • Vor allem soll den ausländischen Arbeitnehmern die eigenverantwortliche Entscheidung über die Dauer ihres Verbleibs in Deutschland ermöglicht werden.

Einmal, und zwar auf Seite 12, ist von Re-Integrationsmaßnahmen die Rede. Von ihnen wird gesagt, daß sie in erste Linie Aufgabe der Ursprungsländer sind.

Hier handelt es sich um ein Konzept, in dem die ausländischen Arbeiter, die hier sind, als Teil der Arbeiterschaft und die ausländische Wohnbevölkerung als Teil unserer Gesellschaft voll akzeptiert sind. Es wird noch einen großen politischen Kampf bedeuten, ein solches Konzept theoretisch und praktisch durchzusetzen. Entscheidend ist, daß die Perspektiven unabhängig von Konjunkturschwankungen durchgehalten werden. Diese Perspektiven müssen längerfristig angelegt sein als bisher. Eine nicht geförderte Integration bei Einwanderungsländern verläuft über 3 Generationen. Es gibt einen Erfahrungssatz, der besagt: Die erste Einwanderungsgeneration findet den Tod - die zweite die Not - die dritte das Brot. Auf die Integration hin könnte man sagen: Die erste Generation findet die Desintegration - die zweite Generation gerät in die Zerreißprobe zwischen Integration und Ghetto. Erst die dritte Generation wird die Chance haben ,in gleichberechtigter Weise in der neuen Gesellschaft zu leben. Die dritte Generation wird bereits geboren - etwa100.000 Kinder jedes Jahr. Sie werden mit den deutschen Kindern zusammen die tragende Schicht der Gesellschaft des Jahres 2000 sein. Und dann wird es nicht nur um unsere Renten gehen!!