Herbert Leuninger

ARCHIV MIGRATION
1976

Reintegration statt Integration

Interview
für das Programm des WDR (Westdeutscher Rundfunk, Köln) "Italienische Arbeitnehmer"
von Gianna van Loe mit Herbert Leuninger in italienischer Sprache,
aufgenommen am 24.1.1976 in Frankfurt/Main (Übersetzung)


WDR:
Wir interviewen Herrn Leuninger, Ausländerreferent des Bischofs von Limburg und Mitglied des Initiativausschusses "Ausländische Mitbürger in Hessen".

Herr Leuninger, welche Gründe haben Ihrer Auffassung nach die Bundesregierung veranlasst, die Ausländerpolitik von einer Politik der Integration auf eine Politik der Reintegration umzustellen?

Leuninger:
Nach meiner Auffassung lassen sich folgende Gründe angeben:

  1. Die Bundesregierung rechnet auch für die kommenden Jahre mit einer hohen Arbeitslosenquote.
  2. in der gegenwärtigen Wirtschaftskrise sind eine Million Arbeitsplätze verlorengegangen, bzw. vernichtet worden.
  3. In naher Zukunft drängen viele deutsche Jugendliche in das Erwerbsleben. Daher versucht man den Arbeitsmarkt von Arbeitskräften zu entlasten, die verdrängt werden können.
  4. Die Bundesrepublik Deutschland ist im Laufe der letzten 25 Jahre faktisch zu einem Einwanderungsland geworden, obgleich dies den Intentionen der Bundesregierung zuwiderlief. Jetzt möchte man diesen Prozeß rückgängig machen.
  5. Ein weiterer entscheidender Grund für die neue Politik liegt in dem Bemühen, die Kosten der Infrastruktur für die ausländischen Arbeiter und ihre Angehörigen zu sparen.
  6. Der sechste und letzte Punkt: Im Hinblick auf die kommenden Wahlen soll die falsche Auffassung unterstützt und bestärkt werden, die ausländischen Arbeiter seien schuld an der hohen Arbeitslosigkeit.

WDR:
Wie erklärt sich, Herr Leuninger, der Widerspruch, der in den jüngsten Erklärungen von Gewerkschaften und Regierung enthalten ist, nach denen eine in den 17 Thesen enthaltene Politik der Rückwanderung zugelassen wird und man versichert, eine solche der bisherigen entgegengesetzte Politik werde neuerdings im Interesse der Ausländer gemacht?

Leuninger:
Es wird versucht, den deutschen Wähler zu beruhigen. Andererseits will man das Gesicht vor den ausländischen Arbeitern und der deutschen wie der internationalen Öffentlichkeit wahren, indem man sich nicht inhuman und unsozial gebärdet.

Außerdem scheint sich die Regierung im Grunde bewußt zu sein, daß eine Rückwanderungspolitik keinen großen Erfolg haben wird. Obwohl bereits rigorose Maßnahmen zur Verminderung der Zahl der in der Bundesrepublik tätigen Ausländer ergriffen werden, ist die ausländische Wohnbevölkerung im letzten Jahr nur um ein Prozent gesunken. Während zwar 300.000 ausländische Arbeiter Deutschland verlassen haben, sind die ausländischen Familien um fast die gleiche Anzahl gewachsen, so daß statt 4,1 Mio. Ausländern nur 38.000 weniger in der Bundesrepublik leben.

WDR:
Herr Leuninger, das ist ja ein völlig neuer Aspekt. Nach den bis vor kurzem bekannt gegebenen Zahlen mußte man den Eindruck gewinnen, daß sich die Anzahl der Ausländer tatsächliche drastisch vermindert hat. Wie kommt es zu diesem Gegensatz?

Leuninger:
Ich wiederhole nochmals im Hinblick auf die bis vor einigen Monaten veröffentlichten überhöhten Zahlen, daß es darum geht, die deutschen Wähler zu beruhigen und die ausländischen Arbeiter zu verunsichern, ein psychologisches Manöver also.



Untitled Document