Herbert Leuninger

ARCHIV MIGRATION
1977

AUSLÄNDISCHE ARBEITNEHMER - EINE SCHWEIGENDE MINDERHEIT?

Vorschläge zum Aufbau eines Kommunikationsnetzes in der Ausländerarbeit

Die Profis der Ausländerarbeit haben es schwer, an die notwendigen Informationen heranzukommen. Die Politiker verschleiern ihre Absichten, die zuständigen Regierungsstellen arbeiten mit Erlassen, die nicht zur Veröffentlichung bestimmt sind, die Behörden geizen mit einschlägigen Angaben, die Betroffenen selbst sind stumm. Weithin regiert die Zufälligkeit bei der Beschaffung von Information.

Skizze


Einführung

In den Presse-Informationen der Bundesanstalt für Arbeit vom 9. September 1976 heißt es lapidar: "Von September 1973, dem Höchststand der Ausländerbeschäftigung, ist die Zahl der ausländischen Beschäftigten bis Dezember 1975 um 662.400 oder 25,5% zurückgegangen. Erstmals seit 1971 wurde damit die 2 Millionengrenze unterschritten." Am nächsten Morgen steht über einer 12-Zeilen-Meldung der Frankfurter Rundschau: "Ausländerbeschäftigung stark geschrumpft". Ein paar Tage später kommt die Nachricht im Handelsblatt: "Gastarbeiterzahl sinkt unter zwei Millionen. "Der Bundesbürger nimmt es mit größter Selbstverständlichkeit zur Kenntnis. Die Öffentlichkeit reagiert gelassen bis erleichtert. Der Blätterwald rauscht nicht auf, es kommt nur zu einem statistischen Lufthauch.

660.000 Arbeiter verlieren ihre Arbeit, werden ganz gezielt vom Arbeitsmarkt abgedrängt oder sogar für alle Zeit ausgeschlossen. Und die Betroffenen 5chweigen. Sie haben in unserer Gesellschaft nichts zu sagen und so sagen sie nichts, nehmen das, was ihnen in einem unerhörten Vorgang deutscher Nachkriegspolitik widerfährt, als eine Naturkatastrophe, vor der sie resignieren. Sie wandern ab, gehen in die "stille Reserve" oder sogar in die Illegalität. Wer weiß es? Der Verdrängungsprozeß läuft fast lautlos ab.

Vorbei sind die Zeiten der großen Ausländer Enqueten, der Repräsentativ-Umfragen, der wissenschaftlichen Großprojekte. Übrig geblieben sind Mini-Erhebungen für engagierte Examensarbeiten. Auch hier das große Schweigen!

Es hat gegen die Ausländerpolitik von Bund und Ländern vielerlei Protest gegeben. Proteste von Deutschen stellvertretend für die Ausländer. Sie haben vermutlich noch Schlimmeres verhütet oder doch wenigstens für Unruhe gesorgt. Eine politische Resonanz haben sie nicht gefunden, geschweige denn eine politische Bewegung ausgelöst. Es fehlte am Zusammenschluß der Kräfte, an der gegenseitigen Information, an Analysen und Dokumentationen auf Bundesebene.

Die Profis der Ausländerarbeit haben es sehr schwer, an die notwendigen Informationen heranzukommen. Die Politiker verschleiern ihre Absichten, die zuständigen Regierungsstellen arbeiten mit Erlassen, die nicht zur Veröffentlichung bestimmt sind, die Behörden geizen mit einschlägigen Angaben, die Betroffenen selbst sind stumm. Weithin regiert die Zufälligkeit bei der Beschaffung von Information. In Berlin ist unbekannt, was in München geschieht, in Stuttgart weiß niemand, was sich im Ruhrgebiet abspielt.

Dabei gibt es Tausende von wichtigen Informanten, die nie gefragt werden, hunderte von Gruppen, die über umfangreiche Erfahrungen verfügen. Von einigen Informationsdiensten abgesehen, haben wir es aber nur ansatzweise und bruchstückhaft mit Kommunikationsstrukturen zu tun.

Vorschläge

1. Funktion

1.1 Bundesweiter, systematischer Informationsaustausch zu allen Fragen der ausländischen Arbeits- und Wohnbevölkerung.

Hierbei müssen Schwerpunkte gesetzt werden, da sonst die Fülle des Materiäls er stickt und eine noch größere Desorientierung bewirkt. Es geht also nicht darum. irgendwelchen Nachrichtenagenturen mit interessanten Informationen Konkurrenz zu machen.

Ein solcher Informationsschwerpunkt wäre die Ausländerpolitik des Bundes, der Länder, der Gewerkschaften, der Arbeitgeberverbände, der Europäischen Gemeinschaft, der Entsendeländer. Ob als zweiter Schwerpunkt auch noch die Schulpolitik hinzugenommen werden kann, ist eine Frage der Kräfteökonomie.

Auf jeden Fall muß über die Schwerpunkte des Informationsaustausches eine periodische Abstimmung erfolgen.

1.2 Dokumentation und Analyse aktueller Ereignisse, Maßnahmen, Entwicklungen, etc.

Wer etwas zu sagen hat, muß medienpolitisch gesehen mit den Wölfen heulen können, d.h. er muß ständig auf höchste Aktualität eingestellt sein und sich sogar gelegentlich in Aktualität überschlagen können.

Das ist bei gezielter Arbeitsteilung und eingespielten Kontakten durchaus möglich.

Bis auf den heutigen Tag fehlt es z.B. an Übersichten über die Praxis der Arbeitsämter bei der Verlängerung der Arbeitserlaubnis oder der Sozialämter bei der Gewährung von Hilfe für den Lebensunterhalt bei Ausländern. Gibt es eine einheitliche Praxis der Ausländerbehörden für die Nichterteilung einer Aufenthaltsberechtigung usw.?

Analyse: Es liegt das Protokoll der 1. Sitzung der Bund-Länder-Kommission zur Fortentwicklung der Ausländerbeschäftigungspolitik am 4.8.1976 vor. Es enthält eine Fülle bedenklicher Anregungen Sie sind zu durchleuchten, um Stellungnahmen der verschiedensten Kräfte zu ermöglichen.

1.3 Eine möglichst einheitliche Meinungsbildung durch Angleichung des Informationsstandes.

Gleicher Informationsstand garantiert keineswegs politisch einhellige Meinungen, ist aber bei grundsätzlicher Zielidentität die wichtigste Voraussetzung hierfür. Ein guter, einheitlicher Informationsstand bedeutet angesichts des ungeheuren amtlichen Informationsvorsprungs eine große politische Kraft. Andererseits schafft eine funktionierende Kommunikationsstruktur aufgrund des Basisnähe einen Informationsfundus, der Regierungen und Behörden abgeht.

Die Angleichung des Informationsstandes schließt die Weitergabe auch vertraulicher Mitteilungen ein.

1.4 Vergleichsmöglichkeit unterschiedlicher Konzeptionen, Gesetze und Maßnahmen in den einzelnen Bundesländern.

Trotz hoher Übereinstimmung in der Ausländerpolitik - hier spielen wohl die Bundeskonferenzen der Arbeits-, Kultus- und Innenminister eine ausschlaggebende Rolle - führen die unterschiedlichen politischen Konstellationen und die voneinander abweichende Dichte der Ausländerbeschäftigung zu speziellen Länderprogrammen. Für die Trenderkennung ist die Information hierüber unerläßlich. Beispiel: Erlaß des Bayerischen Innenministers zur Familienzusammenführung vom 12.1.1976.

1.5 Versorgung der Medien und Entscheidungsträger mit sonst nicht veröffentlichten Informationen.

In den Redaktionen der Zeitungen, der Rundfunk- und Fernsehanstalten herrscht nach unseren Erfahrungen eine große Bereitschaft, konkrete und mit' Hintergrund aufbereitete Information zu verarbeiten. Die Stellungnahme des Initiativausschusses zu den 17 Thesen der Bundesregierung z.B. hat über Pressenmeldungen hinaus zu Interviews in den Ausländerprogrammen von Radio München und dem WDR, zu einem Telefoninterview mit Radio Bremen, zu einer Fernsehdiskussion im 3. Programm mit Bundestagsabgeordneten, zu Vorbesprechungen für Sendungen der Hessenschau und des ZDF geführt.

1.6 Blitzumfragen (quasi-repräsentativ) bei geringem finanziellen Aufwand.

Alle Vorschläge zum Aufbau eines Kommunikationsnetzes gehen davon aus, daß für diese Arbeit die vorhandenen Kräfte und Mittel ausreichen müssen und können.

Umfragen - nicht immer im Eilverfahren - müssen aus dem Bundesgebiet und den. einzelnen Ländern Material erbringen, das u.U. überzeugend ausweist, daß der Familiennachzug nicht nur in Bayern aufgrund des Erlasses des Innenministeriums vom 12. Januar 1976, sondern auch in anderen Ländern erheblich behindert wird.

Oft gilt es auch den Einwand zu entkräften, bei ausländerabwehrenden Entscheidungen einer bestimmten Behörde handele es sich um einen bedauerlichen Einzelfall.

Wie sich derartige Umfragen bewerkstelligen lassen, versuche ich unter 3.2 meiner Vorschläge darzutun.

1.7 Angleichung der Aktionsmuster zur Verbesserung der Situation der Ausländer.

Diese Detail-Funktion macht deutlich, daß es bei einem reinen Informationsaustausch nicht sein Bewenden haben kann. Kommunikation ist eine Form der Inter-Aktion und tendiert zum ähnlichen, schließlich auch zum gemeinsamen Handeln.

Unter Angleichung der Aktionsmuster ist eine weitgehende inhaltliche und methodische Ähnlichkeit des Vorgehens gemeint.

Dadurch werden Aktionen übertragbar und lassen sich gegebenenfalls auf Bundesebene koordinieren.

1.8 Herstellung einer Gegenöffentlichkeit

Es ist eine Sisyphus-Arbeit, Interessen von Minderheiten in der Öffentlichkeit wirksam zur Sprache zu bringen. Selbst ein kritischer Journalismus ist in den Massen-Medien zur Ausgewogenheit verpflichtet. Interessen von Minderheiten stehen entgegen den Interessen der Mehrheit. Trotz beachtlicher Beiträge in Presse, Funk und Fernsehen dominieren dort die politischen und wirtschaftlichen Interessen der Deutschen, die nicht nur die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung darstellen und nahezu über das gesamte Machpotential einer Gesellschaft verfügen, sondern auch das Privileg besitzen, Wählervolk zu sein.

Arendt oder Buschfort, Filbinger und Stingl stecken medienpolitisch das Feld ab. Was blieb etwa von einer kürzlichen Akademietagung in Hofgeismar im Pressenetz hängen: Stingl hat sich für den weiteren Rückgang der Ausländerbeschäftigung eingesetzt. Nichts etwa davon, daß Heinz Richter vom DGB eine Initiative der Gewerkschaften zur Verbesserung des aufenthaltsrechtlichen Status der Ausländer angekündigt hatte.

Es herrscht in der Öffentlichkeit eine gigantische Lernhemmung gegen hinsichtlich der Tatsache vor, daß die Bundesrepublik nach zwei Jahrzehnten Ausländerbeschäftigung zu einem spezifischen Einwanderungsland geworden ist.

2.Struktur

2.1  HAUPTZENTRUM (HZ)

  • speichert Information;
  • baut Kommunikationsstruktur auf;
  • initiiert Umfragen;
  • initiiert bundesweite Aktionen;
  • gibt Stellungnahmen für die Bundesebene ab;
  • organisiert Bundestreffen.

2.2  5 - 8 OBERZENTREN (OZ)

Großstädte mit hohem Ausländeranteil, möglichst Landeshauptstädte
mit Kontaktbüro

  • speichern Information;
  • beobachten überregionale Presseorgane ihres Raums;
  • versenden Informationen an HZ, OZZ und MZZ
  • geben Stellungnahmen ab;
  • halten Pressekonferenzen;
  • holen Informationen ein;
  • stellen Aktionspläne auf.

2.3  30 - 50 MITTELZENTREN (MZ)

Großstädte und Mittelstädte mit Organisationen für Ausländer in einem bestimmten Bundesland
mit Kontalbüro

  • geben Information an OZ und UZZ;
  • holen Information bei UZZ ein;
  • beobachten regionale Publikationsorgane;
  • führen Aktionen durch.

2.4  100 - 150 UNTERZENTREN (UZ)

mit Ausländerfragen befaßte Einzelpersonen bzw. Organisationen
mit Kontaktadresse -

  • geben Information an MZ (und OZ);
  • führen Aktionen durch;
  • empfangen Information.

veröffentlicht in: Journal G, Dokumentationen zu Problemen ausländischer Arbeitnehmer, Nr 9/10 1977, S.79-83

(Kommentar: Eine Umsetzung des vorgeschlagenen Konzepts ist nicht erfolgt.)