Herbert Leuninger

ARCHIV MIGRATION
1977

Einführung in den
"Bericht über die Beratungen der Bund-Länder-Arbeitsgruppe, zur Fortentwicklung einer umfassenden Konzeption der Ausländerpolitik"

INHALT
Die konventionelle Ausländerpolitik, die sich in dem Bericht niederschlägt, ist nur ein Sonderfall bundesdeutscher Politik überhaupt, die Wahrheit niederhält und einschneidenden Maßnahmen, die für die Zukunft entscheidend sind, ausweicht.


BISCHÖFLICHES ORDINARIAT LIMBURG
Dezernat Kirchliche Dienste
Referent für kirchliche Ausländerarbeit

KATHOLISCHER ARBEITSKREIS FÜR FRAGEN AUSLÄNDISCHER ARBEITNEHMER
Sitzung am 21.Januar 1977 im Katholischen Büro, Bonn

Der "Bericht über die Beratungen der Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Fortentwicklung einer umfassenden Konzeption der Ausländerpolitik" geht in seiner Präambel von "Grundpositionen" aus (vgl.SS.3-5), die als das Fundament künftiger Ausländerbeschäftigungspolitik anzusehen sind. Von ihnen her wollen alle Detailvorstellungen und -vorschläge verstanden werden. Für eine Einführung in den Bericht konzentriere ich mich auf die "Grundposition" 1.(Aufenthaltsland), 4.(Rückkehrbereitschaft) und 5.(Integration).

A u f e n t h a l t s l a n d

"1. DIE BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND IST KEIN EINWANDERUNGSLAND. SIE VERSTEHT SICH ALS EIN AUFENTHALTSLAND FÜR AUSLÄNDER, DIE IN DER REGEL NACH EINEM MEHR ODER WENIGER LANGEN AUFENTHALT AUS EIGENEM ENTSCHLUSS IN IHRE HEIMAT ZURÜCKKEHREN" (S.3).

Diese politische Basisaussage entspricht längst nicht mehr der Wirklichkeit. Umso überraschender muß es sein, wenn sie als Zukunftsperspektive formuliert wird.

Der Zentralrat des Deutschen Caritasverbandes hat bereits 1971 in einer Erklärung festgestellt:

  • "Allein von den italienischen und spanischen Familien sind mehr als die Hälfte länger als fünf Jahre hier. Damit ist die Bundesrepublik faktisch ein Einwanderungsland geworden. Dieser vorn Staat nicht berücksichtigte Tatbestand hat zu Unzulänglichkeiten und Mißständen geführt, die nicht länger hingenommen werden können."

Im Beschluß der Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik "Die ausländischen Arbeitnehmer - eine Frage an die Kirche und die Gesellschaft" vom November 1973 heißt es:

  • "Inzwischen wird offensichtlich, daß sich ein Teil der ausländischen Arbeitnehmer bei uns endgültig niederlassen will und im Hinblick auf den Zeitablauf billigerweise auch, nicht daran gehindert werden darf. Für diese ist die Bundesrepublik Deutschland faktisch zum Einwanderungsland geworden" (Teil II).

Am 21. September 1976 hat der für Ausländerfragen zuständige Bischof der Deutschen Bischofskonferenz, Dr. Hermann Wittler, Osnabrück in einem Schreiben an den damaligen Bundesarbeitsminister Walter Arendt auf folgendes hingewiesen:

  • "Zwanzig Jahre Ausländerbeschäftigung haben dazu geführt, daß weite Kreise der ausländischen Wohnbevölkerung in Deutschland faktisch ansässig geworden sind. Dies gilt vornehmlich für ca. eine Million Kinder und Jugendliche, die hier geboren wurden bzw. aufgewachsen sind. Sie haben praktisch keine andere Heimat als Deutschland."

Die Stellungnahme zur Problematik ausländischer Arbeitnehmer der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland und Berlin (West) vom 14.Januar 1976 kritisiert die offizielle Regierungspolitik u.a. mit dem Satz:

  • "Man beruft sich darauf, daß die Bundesrepublik kein Einwanderungsland sei, obgleich über die Hälfte der insgesamt etwa 4 Millionen Ausländer über fünf Jahre und etwa 15% inzwischen über zehn Jahre mit uns arbeiten und leben."

Nach den jüngsten Angaben des Statistischen Bundesamtes leben mittlerweile 70% der Ausländer vier und mehr Jahre im Bundesgebiet. Weitere Einzelheiten:

  • "Ende September 1976 waren rund 81% der Ausländer drei Jahre und länger im Bundesgebiet anwesend; einen Aufenthalt von 6 bis unter 8 Jahren hatten 21%, und seit 10 Jahren und mehr halten sich 23% in der Bundesrepublik auf."(vgl. Wirtschaft und Statistik, 12/76,S.726)

Die schon länger zurückliegende Repräsentativuntersuchung '72 der Bundesanstalt für Arbeit "Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer" kommt hinsichtlich der Aufenthaltsvorstellungen ausländischer Familien zu folgenden Ergebnissen:

  • "Von den ausländischen Arbeitnehmern mit zwei. Kindern (im Bundesgebiet anwesend) wollen 39%, von jenen mit drei und mehr Kindern 44% voraussichtlich für dauernd in der Bundesrepublik leben" (S.39/40).

Im Mai 1975 gab es im Bundesgebiet 437.000 ausländische Familien mit zwei oder mehr Kindern.. (Ergebnis des Mikrozensus aus der EG-Arbeitskräftestichprobe, nach Unterlagen des Statistischen Bundesamtes)

Die Ausländerstudie für die Stadt Köln vom Mai 1976 (Entwurf) befaßt sich ausdrücklich und hauptsächlich

  • "mit der Gruppe der faktisch bzw. potentiell eingewanderten ausländischen Arbeiter" (S.2).

Sie rechnet damit, daß 60 - 70% der ausländischen Arbeitnehmer in der Bundesrepublik bleiben wollen (vgl. S.17):

  • "Die Anwesenheit ausländischer Arbeitnehmer und ihrer Familien ist keine vorübergehende Erscheinung, wovon der Intention nach das Ausländergesetz ausgeht, sondern sie ist in ihren Grenzen von ca. 4 Mio auf Dauer angelegt..."(S.26).

Kurz vor dem vergangenen Jahresende wurde der "Ausländer-Bericht" der Stadt Stuttgart vom Oktober 1976 veröffentlicht. Darin heißt es:

  • "Nach einer Untersuchung des Statistischen Landesamts (Baden-Württemberg) beträgt bei 32% der ausländischen Haushalte die Aufenthaltsdauer des Haushaltsvorstands zehn und mehr Jahre. Dies bedeutet, daß die Bundesrepublik für einen großen Teil der ausländischen Bevölkerung faktisch zum Einwanderungsland geworden ist" (S.70).

Eine Studie der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO),Genf über-blickt den europäischen Bereich:

  • "Außer der erwarteten Rückwanderungswelle von rund einer Million... werden keine bedeutenden neuen Bewegungen über die Grenzen erwartet. Die Gastarbeiter dürften also langsam ansässig werden, die größten Veränderungen in ihrem Bestand sind Geburten und Todesfälle" (Frankfurter Neue Presse vom 15.9.1976).

Angesichts des rapiden Geburtenrückgangs bei der deutschen Bevölkerung und der damit verbundenen künftigen, größten Schwierigkeiten für das Rentenfinanzierungsproblem schlägt Dieter Mertens, der Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit, Nürnberg vor:

  • Die Bundesrepublik sollte "sich als Einwanderungsland definieren und eine klare strategische Einwanderungspolitik betreiben" (Frankfurter Rundschau- vom 8.1.1977).

Diese Auffassung deckt sich mit der Aufforderung von Bischof Wittler an Bundesminister Arendt, angesichts des erschreckenden Geburtenrückgangs und der Zukunft der Rentenfinanzierung eine Ausländerpolitik zu betreiben, die langfristig über den Zeitraum von Legislaturperioden hinweg angelegt ist. Genau dies tut aber der Bericht der Arbeitsgruppe nicht. Er kommt über 1985 nicht hinaus und kann daher der Zukunft nicht gerecht werden. Daß ihm dies nicht einmal für die Gegenwart gelingt, zeigt die Gegenüberstellung seiner These, die Bundesrepublik sei kein Einwanderungsland mit der Wirklichkeit. Liegt hier eine massive Realitätsverkennung oder -verdrängung vor? Dieser Frage soll nachgegangen werden, sobald die beiden anderen "Grundpositionen" 4.und 5. behandelt sind.

R ü c k k e h r b e r e i t s c h a f t

"4. DIE RÜCKKEHRBEREITSCHAFT UND RÜCKKEHRFÄHIGKEIT DER IN DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND LEBENDEN AUSLÄNDISCHEN ARBEITNEHMER UND IHRER FAMILIEN MUSS VERSTÄRKT WERDEN. DIE HEIMATLÄNDER HABEN DABEI EINE WICHTIGE VERANTWORTUNG (S.4).

Diese Grundposition ist im Zusammenhang mit der "Konsolidierung der Ausländerbeschäftigung" zu sehen. Mit dieser euphemistischen Vokabel ist der Versuch gemeint, weitere ausländische Arbeitnehmer vom deutschen Arbeitsmarkt zu verdrängen (vgl.S.4). "Die Arbeitsgruppe ist der Auffassung, daß die Förderung der Rückkehr ausländischer Arbeitnehmer ein wesentlicher Bestandteil einer künftigen Ausländerpolitik ist" (S.40). An dieser Stelle soll darauf aufmerksam gemacht werden, daß in dem Bericht die ausländerabwehrenden Tendenzen des Bundesarbeitsministeriums mit denen von Ministerpräsident Filbinger konvergieren. So heißt es etwa in der Denkschrift "Ausländische Arbeitnehmer in Baden-Württemberg": "Für die künftige Ausländerpolitik ist es notwendig, dem Prinzip der freiwilligen Rückwanderung der Ausländer eine ganz besondere Bedeutung zuzuerkennen " (S.50). Die Denkschrift meint im Prinzip alle Ausländer, Arbeitnehmer und Nichterwerbspersonen ebenso wie EG- und Nicht-EG-Angehörige. Dies ist bei dem Verständnis der 4. Grundposition zu berücksichtigen. Geht es bei den ausländischen Arbeitnehmern um den Export von Arbeitslosigkeit, so bei ihren Angehörigen um den Export von infrastrukturellen Kosten und ungelösten sozialen Problemen.

Zwar werden bei der Rückkehrförderung Zwangsmaßnahmen abgelehnt (vgl. S.4), dennoch handelt es sich im Grunde um eine Entwurzelungsstrategie, die den Manipulationscharakter der nichtdeutschen Wohnbevölkerung aufrecht erhält. So werden bei den späteren Empfehlungen des Berichts die Instrumente der Ausländersteuerung beibehalten, die mit der behaupteten Freiwilligkeit einer. Rückkehr nicht in Einklang zu bringen sind.

Hierzu die Stellungnahme des Bundesjugendkuratoriums zur Situation ausländischer Kinder und Jugendlicher in der Bundesrepublik Deutschland (Bonn, 24. November 1976, S. 2)

  • "Die Daten zeigen, daß das Integrationsproblem sich trotz Anwerbestopp im Rahmen der zugelassenen Familienzusammenführung in zunehmendem Maße verschärft. Die Aufenthaltsdauer wird immer länger, und für viele ausländische Kinder und Jugendliche ist das Heimatland ihrer Eltern 'Ausland'
    Eine Ausländerpolitik, bei der die Zielsetzung der sozialen Integration gegenüber der Reintegration ins Hintertreffen gerät, betreibt de-facto vor allem für ausländische Kinder und Jugendliche eine "Entwurzelungsstrategie" und würde diese Gruppe gegenüber den deutschen Kindern noch stärker benachteiligen."

I n t e g r a t i o n

"5. DIE IN DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND LEBENDEN AUSLÄNDISCHEN ARBEITNEHMER UND IHRE FAMILIEN SOLLEN EIN IN IHREM SOZIALEN UND RECHTLICHEN STATUS GESICHERTES UND IN DIE GESELLSCHAFT INTEGRIERTES LEBEN FÜHREN KÖNNEN (S.4).

Der rechtliche Status der Ausländer bleibt auch nach den Empfehlungen der Arbeitsgruppe weithin ungesichert, da die Gewährung von Rechtssicherheiten an schwer erfüllbare und unterschiedlich auslegbare Vorbedingungen geknüpft wird (vgl. unbefristete Aufenthaltserlaubnis und Aufenthaltsberechtigung). Daher bietet die 5. Grundposition den Ausländern ein in ihrem rechtlich ungesicherten Status gesichertes Leben an!

Unter der Integration in die Gesellschaft wird eine "soziale Integration der in der Bundesrepublik lebenden ausländischen Arbeitnehmer, insbesondere der hier heranwachsenden Kinder und Jugendlichen, für die Dauer ihres Aufenthalts" (S.6/7) verstanden. Diese "soziale Integration" ist eine zeitlich und inhaltlich begrenzte Eingliederung. Zeitlich ist sie begrenzt, da man von einem in der Regel "mehr oder weniger langen Aufenthalt" des Ausländers ausgeht (vgl.S.3),und die Bundesrepublik als Nicht-Einwanderungsland ansieht (vgl.S.3). Inhaltlich ist sie eingeschränkt, insofern eine rechtliche und politische Einfügung in die Gesellschaft ausgeschlossen bleibt. Die Offenheit, die die bisherige Verwendung des Begriffs "Integration" in Richtung auf, eine umfassende Eingliederung einschloß, ist mit all diesen Verengungen verloren gegangen. Man sollte es künftig ablehnen, dieses Verständnis von "sozialer Integration" als Integration zu bezeichnen.

Die Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik fordert für die ausländischen Arbeitnehmer und ihre Familien

  • "ein Höchstmaß an Rechtssicherheit, ein größtmögliches Maß an eigener Entscheidungsfreiheit und Mitwirkung, wolle Gleichheit der Chancen und sozialen Sicherung" (a.a.O,II,2.)

und sagt dann zur Integrationspolitik:

  • "Wer im Vertrauen auf das, was man in der Bundesrepublik bisher unter Integrationspolitik verstanden hat, gekommen ist, darf nun nicht zum Verlassen der Bundesrepublik gezwungen werden" (a.a.O.,II,5.).

Bischof Wittler befürchtet in seinem Schreiben an Bundesminister Arendt, die Integrationspolitik könne aufgegeben werden. Das will die Kirche nicht akzeptieren:

  • "Die Kirche steht nach wie vor zu der Ausländerpolitik, die der. ausländischen Wohnbevölkerung die volle Eingliederung unsere Gesellschaft anbietet und ermöglicht."

In einem Referat, das am 19.Januar 1977 in Frankfurt gehalten wurde, gab Oberkirchenrat Dr. Jürgen Micksch vom Außenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland u.a. zu bedenken:

  • "Die bisherige Politik halbherziger Entscheidungen und provisorischer Lösungen kommt die Bundesrepublik auf Dauer teuer zu stehen. Dahingegen würde eine konsequente Integrationspolitik die Behörden von vielen administrativen und fürsorgerischen Maßnahnen entlasten. Sie würde vor allem die Integrationsfähigkeit bei dem in Frage kommenden Personenkreis fördern."

Die Entschließung des Hessischen Landesausschusses beim Sozialministerium "Hessen und seine ausländischen Mitbürger" vom 15.9.1976 verwendet zwar auch den Begriff der "sozialen Integration", aus dem Kontext wird aber deutlich, daß hierin eine perspektivische Offenheit eingeschlossen ist;

  • "...wird die Landesregierung aufgefordert, den Weg zur sozialen Integration unbeirrt fortzusetzen und die Integrationswilligkeit und -fähigkeit zu fördern. Die gemeinsame, inzwischen. mehr als zehnjährige Erfahrung ausländischer und deutscher Bürger und ihrer Familien am Arbeitsplatz und im privaten Lebensbereich, bewirkt durch das Leben selbst, daß der Prozeß der sozialen Integration weit vorangeschritten ist. Aufgrund des Zusammenwachsens der deutschen und ausländischen Wohnbevölkerung sieht der Hessische Landesausschuß keine andere Alternative" ( S.4/5).

Die Kölner Ausländerstudie macht die Bundesregierung darauf aufmerksam, daß sich in den Großstädten bereits eine Anzahl dynamischer sozialer Prozesse abspielten, die mit primär ordnungspolitischer Zielsetzung des Bundes nicht mehr in den Griff zu bekommen seien (vgl. a.a.O. S.26). Von daher auch eine Kritik an einem reduzierten Integrationsverständnis:

  • "Die ordnungspolitische Auslegung des Sozialstaatsgebotes, welche die Bundesregierung zur Forderung nach Eingliederung der ausländischen Arbeitnehmer für die Zeit ihres Aufenthaltes veranlaßt, wird der Situation in den Gemeinden nicht gerecht" (S.26).

K r i t i k

Die Bund-Länder-Arbeitsgruppe legt einen Bericht vor, der in entscheidenden Punkten der Wirklichkeit nicht oder nicht mehr entspricht, und außerdem konträre Zielvorstellungen miteinander zu verbinden trachtet.

So widerspricht es der Wirklichkeit, die Bundesrepublik als ein Nicht-Einwanderungsland anzusehen , die Förderung der Rückkehrbereitschaft auf den Kreis von einer Million Kinder und Jugendlicher nichtdeutscher Eltern auszudehnen und einen verengten Integrationsbegriff für die Zukunftsaufgaben eines Einwanderungslandes zu verwenden. Konträre Zielvorstellungen werden miteinander gekoppelt, wenn der Bericht die "Soziale Integration der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familien auf der einen Seite, sowie Konsolidierung der Ausländerbeschäftigung auf der anderen Seite" als "wesentliche und sich ergänzende Bestandteile eines ausgewogenen, umfassenden Konzepts der künftigen Ausländerbeschäftigungspolitik" herausstellt (S.5).

Nun hieße es den Rang der bundesdeutschen Ministerialbürokratie total unterschätzen, wenn man ihr eine Realitätsverkennung unterstellen wollte. In zuständigen Bundesministerien (z.B. im Bundesarbeitsministerium und im Bundeswissenschaftsministerium) rechnet man damit, daß der Bevölkerungsteil, der nach wie vor als "ausländischer" bezeichnet wird, die bisherige Größenordnung im wesentlichen behalten wird. Quantität und Qualität der in dem Bericht vorgeschlagenen Eingliederungsmaßnahmen sind letztlich nur im Rahmen einer umfangreichen Dauerintegration verständlich.

Der Bericht wird in seinen grundlegenden Ungereimtheiten nur dann klarer, wenn man ihn als eine politische Form der Realitätsverdrängung auffasst. Es wird so getan, als könne man durch die Nichtanwendung der zutreffenden Nomenklatur, durch die Aufrechterhaltung des Manipulationscharakters der nichtdeutschen Bevölkerung, durch die Nichtgewährung weiterer Rechte und durch eine Rückkehrpolitik und Entwurzelungsstrategie den Einwanderungsprozess umkehren oder doch wenigstens in seinen Umfang minimalisieren. Hier beginnt die Fremdtäuschung, die selbstverständlich ohne ein Stück Selbsttäuschung kaum möglich ist.

Die Immigration ist irreversibel. und wer politischerseits dies nicht mit allen Konsequenzen voll in Rechnung stellt, verstärkt in der Öffentlichkeit die gigantische Lernhemmung gegenüber der Tatsache, daß die Bundesrepublik ein Einwanderungsland geworden ist. Diese Lernhemmung verhindert bei Politikern, bei den Sozialpartnern, bei den anderen gesellschaftspolitisch relevanten Kräften die erforderlichen rationalen Entscheidungen. Das wirkt sich zum Schaden aller aus. Der Integrationsprozess kann nicht verhindert, sondern nur verzögert werden.

Im ganzen erweist sich die konventionelle Ausländerpolitik, die sich in dem Bericht niederschlägt, nur als Sonderfall bundesdeutscher Politik überhaupt, die Wahrheit niederhält und einschneidenden Maßnahmen, die für die Zukunft entscheidend sind, ausweicht.


 

NITIATIVAUSSCHUSS
"AUSLÄNDISCHE MITBÜRGER"
IN HESSEN

Geschäftsstelle:
6238 Hofheim (Taunus)
Teutonenstraße 13
Telefon 06192/6513
(Leuninger)                                                                           30.12.1976

PRESSEKONFERENZ
zur künftigen Konzeption der Ausländerpolitik

Sehr geehrte Damen und Herren,

dem Initiativausschuß "Ausländische Mitbürger in Hessen" wurde mit Poststempel Bonn der jüngste Bericht des Bundesarbeitsministeriums über die Beratungen der Bund-Länder-Arbeitsgruppe der Bund-Länder-Kommission zur Fortentwicklung einer umfassenden Konzeption der Ausländerbeschäftigungspolitik zugespielt° Das 60seitige Dokument vom 17.12.1976 enthält die in mehreren Klausurtagungen erarbeiteten Empfehlungen, die die Arbeitsgruppe der Bund-Länder-Kommission zur abschließenden Beratung vorlegt.

Nach einer ersten Analyse ergibt sich, daß in dem Bericht, unbeschadet einiger positiver Ansätze, die Linien einer unrealistischen und verfehlten Ausländerpolitik ausgezogen werden. Es wird für die interessierte Öffentlichkeit von Bedeutung sein, den Bericht bereits jetzt kennenzulernen.

Daher möchten wir Ihnen die wesentlichen Inhalte des Papiers zusammen mit unserer Kritik vortragen und laden Sie freundlich zu einer

Pressekonferenz am Dienstag, den 4. Januar 1977
um 11:00 Uhr im Italienischen Zentrum, Frankfurt/M,
Bockenheimer Anlage 3 (Tel.: 0611 550110) ein,

Mit freundlichen Grüßen!

(Lüderwaldt,Geschäftsführer)
(Leuninger, Pressestelle)


26. Januar 1977
DEUTSCHE WELLE
Programm Südeuropa

Katholische Kirche setzt sich für Gastarbeiter ein

Interview mit Pfarrer Leuninger
Autor: Manfred Bohr

Ansage:

Der Katholische Arbeitskreis für Fragen ausländischer Arbeitnehmer hat auf einer Sondersitzung scharfe Kritik an der geplanten Ausländerpolitik der Bonner Regierung geübt. Das Gremium dem namhafte Vertreter der Katholischen Kirche in der Bundesrepublik angehören, befürchtet eine Verschlechterung fer Rechtsstellung ausländischer Arbeitnehmer. Nach der Sondersitzung des Arbeitskreises sprach unser Redakteur Manfred Bohr mit Pfarrer Herbert Leuninger, Ausländer-Referent der bischöflichen Behörde in Limburg. Er fragte den Kirchen-Vertreter unter anderem nach den Vorstellungen der Katholischen Kirche zur Konsolidierung der Ausländer-Beschäftigung in der Bundesrepublik.

Deutsche Welle:

Her Pfarrer Leuninger, Sie haben sich auf der Sondersitzung gegen die Auffassung der Bundesregierung gewandt, derzufolge die Bundesrepublik Deutschland kein Einwanderungsland sei. Worauf stützt sich Ihr Einwand?

Leuninger:

Auf die Tatsache, daß die ausländischen Arbeitnehmer und ihre Familien zum großen Teil jetzt schon über Jahre hier sind. Darüber gibt es mittlerweile auch statistische Angaben , daß zum Beispiel 70 Prozent der Ausländer vier und mehr Jahre im Bundesgebiet leben, daß zum Beispiel ein Drittel der Väter oder Haushaltsvorstände von ausländischen Familien 10 und mehr Jahre hier sind. Wir können auch davon ausgehen, daß Großstädte wie Köln und Stuttgart wissen, daß der größere Teil ihrer ausländischen Mitbürger tatsächlich vom Wunsch her und von der Situation her auf einen Daueraufenthalt eingestellt ist. So rechnet zum Beispiel die Großstadt Köln mit ihren 100.000 ausländischen Mitbürgern damit, daß 60 bis 70 Prozent der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familien in Deutschland bleiben vollen. So kann man auch davon ausgehen, daß die Bundesrepublik Deutschland tatsächlich, und zwar fast gegen den Willen der Regierungen, zu einem Einwanderungsland geworden ist. Vor allem aber auch aufgrund der Tatsache, daß eine Million Kinder und Jugendliche nichtdeutscher Eltern hier geboren wurden bzw. aufgewachsen sind, für die ja die Heimat der Eltern praktisch schon so etwas wie Ausland ist.

Deutsche Welle:

Ihre Kritik richtet sich unter anderem gegen die Pläne der Bundesregierung, die Familienzusammenführung weiter einzuschränken. Verkennen Sie dabei nicht die Realität, daß bereits rund eine Million ausländische Kinder und Jugendliche in der Bundesrepublik leben und daß sich die Probleme für diese Kinder und Jugendliche noch verschärfen werden, wenn ihre Zahl noch größer wird?

Leuninger:

Hier ist einmal von der Kirche her eine grundsätzliche Ansicht zu äußern. Das Recht, mit der Familie zusammenzuleben, wird von der Kirche her als ein Grundrecht betrachtet und von diesem Grundrecht aus sind dann alle anderen Fragen zu stellen und zu beantworten. Weiterhin kann man ja davon ausgehen, daß sich in der Schlußakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa von Helsinki (KSZE) die Unterzeichnerstaaten bereiterklärt haben, die Zusammenführung der Wanderarbeiter und ihrer Familien zu fördern. Außerdem ist die Bundesrepublik Deutschland durch ihr Grundgesetz verpflichtet, die Familie und den Bestand der Familie zu schützen. Das sind jetzt einfach einmal die Grundaussagen, an denen wir im Grunde nicht vorbeikommen. Die Probleme, die durch die Beschäftigung vo vieler ausländischer Arbeitnehmer in der Bundesrepublik entstanden sind, müssen solidarisch gelöst werden und nicht auf dem Rücken der ausländischen Familien, einer sozial gesehen doch recht schwachen Bevölkerungsgruppe.

Deutsche Welle:

Welche Vorstellungen und Pläne hat die Katholische Kirche ur Konsolidierung der Ausländerbeschäftigung in der Bundesrepublik?

Leuninger:

Die Katholische Kirche hat bereits im November 1973 gesagt: Die ausländischen Arbeitnehmer und ihre Familien haben das Recht auf einen Daueraufenthalt. Sie haben das Recht, vor allem für ihre Kinder, hier voll akzeptiert zu werden. Auf diesen Rechten besteht die Kirche und versucht natürlich in ihrer politischen Arbeit, schließlich aber auch in ihrer unmittelbaren kirchlichen Arbeit, diese Gleichberechtigung der ausländischen Arbeitnehmer, gleich welcher Konfession und gleich welcher Religion, durchzusetzen.

Deutsche Welle:

Herr Pfarrer Leuninger, als Referent fiir ausländische Arbeitnehmer haben Sie ja fast täglich mit den ausländischen Arbeitnehmern und ihren Familienangehörigen zu tun. Sie kennen deren Probleme, und Sorgen. Wie ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt die Stimmung unter den ausländischen Mitbürgern? Wollen die Türken Griechen, Jugoslawen, Spanier und Portugiesen noch länger in der Bundesrepublik bleiben oder möglichst bald in ihre Heimat zurückkehren?

Leuninger:

Diese Menschen aus der Türkei, aus Jugoslawien und Griechenland, vor allem die der ersten Generation, möchten im Grunde natürlich wieder in ihre Heimat zurückkehren. Aber die Situation stellt sich für ihre Kinder bereits ganz anders dar. Für sie ist ja die Heimat ihrer Eltern nicht im gleichen Maße Heimat; sie sind hier aufgewachsen, sie leben hier und insofern zeigt sich auch, daß sich Familien mit Kindern viel stärker darauf einstellen und einstellen müssen, daß sie möglichst lange, vielleicht sogar auf Dauer hier bleiben. Was sie allerdings feststellen müssen in der augenblicklichen Situation ist die Tatsache, dass sie in völliger Unsicherheit über ihre Zukunft leben, gleich wo diese Zukunft sich abspielen kann. Sie wissen nicht, wie es mit ihrem Arbeitsplatz weitergeht, hier oder vielleicht zu Hause. Sie wissen vor allem auch nicht, wie die Zukunft ihrer Kinder aussieht. Und das ist eine unhaltbare Situation, die es diesem Bevölkerungsteil ungeheuer erschwert, sich auf eine vernünftige Lebensplanung einzustellen. Wenn sie wüssten - das habe ich noch dieser Tage gehört -, daß man die Bundesrepublik politisch gesehen als Einwanderungsland betrachte, könnten sie mit größerer Ruhe und innerer Sicherheit über ihre Zukunft entscheiden, vielleicht auch über ihre Rückkehr..

Deutsche Welle:

Ist Ihnen aus der Praxis bekannt, daß die Zahl derjenigen Ausländer, die für immer in der Bundesrepublik bleiben wollen und einen Einbürgerungsantrag stellen wollen, zunimmt?

Leuninger: 

Die Frage des Einbürgerungsantrages ist äußerst problematisch, weil die Voraussetzungen, die an eine Einbürgerung geknüpft werden, von nur einem geringen Prozentsatz ausländischer Arbeitnehmer und Familienangehörigern erfüllt werden können. Ganz davon abgesehen, möchten ja die Türken z.B. auch hier in Deutschland Türken bleiben, sie möchten nicht einfach Deutsche werden. Aber was feststellbar ist und was im Grunde nicht mit der Dauer der Hierseins verbunden ist, ist der gesteigerte Wunsch, doch länger hier bleiben zu können. Insofern kann man auch ohne jegliche humanitäre Einstellung ganz realistisch sagen: Die Bundesrepublik ist ein Einwanderungsland geworden und daraus sollte man vernünftigerweise die Konsequenzen ziehen.