HR
:
Gegenstand unseres Interviews sind die
Probleme der ausländischen Kinder
generell und der neue Hessische Schulerlaß
speziell. Nun, Herr Leuninger, eine Frage
an Sie gerichtet: Wie beurteilen Sie den
Hessischen Schulerlaß für ausländische
Kinder aus der Sicht der katholischen Kirche?
Stellt er eine Verbesserung oder eine Verschlechterung
dar im Bezug auf die Integration der ausländischen
Arbeitnehmer?
Leuninger:
Der Erlaß ist - und das ist natürlich
keine offizielle Wertung - eine Art Gemischtwarenhandlung,
Es sind Verbesserungen enthalten, aber
auch Passagen, die unter Umständen
je nach dem, wie sich die politische Lage
entwickelt, sich als Verschlechterung auswirken
können.
Um mit dem Positiven anzufangen: Der Erlaß
streicht noch einmal heraus, daß
die ausländischen Kinder die gleichen
Rechte und die gleichen Pflichten haben,
wie die deutschen.
Man will auch den Schwerpunkt
auf Integrationshilfen setzen. Aber, und
hier liegt das Unrealistische und damit
auch Negative, die Einleitung spricht von
der "sozialen Eingliederung der ausländischen
Kinder für die Dauer des Aufenthaltes
in der Bundesrepublik". Das heißt
indirekt, daß man nur von einem provisorischen
Aufenthalt der ausländischen Arbeitnehmerbevölkerung
in der Bundesrepublik ausgeht. Das entspricht
nicht der Realität, das entspricht
auch nicht den Aussagen, die etwa der Hessische
Ministerpräsident macht, wenn er sagt,
die Frage Einwanderungsland - Nichteinwanderungsland
- ist nicht mehr aktuell für die zweite
Generation. Für die Jugendlichen,
die hier geboren wurden, gibt es neben
der Bundesrepublik keine Alternative. Das
sei mehr zum Hintergrund gesagt.
Weitere Details, die sich negativ auswirken können, sind die reinen Ausländerklassen. Das sind Klassen, in denen italienische, spanische, türkische, griechische, jugoslawische Kinder zusammen sind ohne deutsche Klassenkameraden.
Eine ähnliche Einrichtung, die auch problematisch ist - obwohl sie etwas besser ist -sind die Ausländerklassen gleicher Muttersprache. Hier sind beispielsweise nur italienische Kinder zusammen, die in italienisch und in deutsch unterrichtet werden, aber ebenfalls ohne ihre deutschen Klassenkameraden. Beide Formen halten wir für sehr problematisch, weil sie u.U., und mit der Erfahrung, die wir jetzt haben, ziemlich sicher, die Gettosituation der Kinder und Jugendlichen noch unterstreichen.
HR
:
Was halten Sie von zweisprachigen Klassen?
Leuninger:
Genau die meinte ich ja eben. Das sind die Klassen, in denen italienische Kinder oder griechische Kinder in ihrer Muttersprache und in Deutsch unterrichtet werden.
HR
:
Ja, das ist das ganze Problem. Man hat gespürt, daß diese sogenannten zweisprachigen Klassen in reine nationale Klassen ausarten. Was mit nationalen Klassen passiert, wissen wir alle: das ist bis jetzt negativ zu bewerten
HR
:
Herr Müller, wie beurteilen Sie als
Gewerkschaftler diesen Schulerlaß
und die Tendenz, diese Maßnahmen
auch in allen anderen Bundesländern
durchzuführen?
Müller:
Zunächst möchte ich einmal sagen,
daß die Gewerkschaften vom Beginn
an, seit sie sich mit dem Schulproblem
ausländischer Kinder befaßt
haben, immer die Integration in den Vordergrund
gestellt haben. Der Begriff zweisprachige
Klassen ist ja insofern falsch, als es
kein deutsches Kind gibt, das die gleiche
Klasse besucht, um italienisch zu lernen.
Also sind diese Maßnahmen direkt
darauf angelegt, hier die ausländischen
Kinder aus dem normalen Schulbetrieb abzusondern
und in eigenständigen Klassen zusammenzufassen.
Was das bisher gebracht hat, haben wir
ja an einer Reihe von Beispielen gesehen.
Wir sind der Meinung, daß sicherlich
die Muttersprache der Kinder erhalten bleiben
soll. Aber um den ausländischen Kindern
Chancen einzuräumen, später Eingang
in das Berufsfeld zu finden, muß
hier auf ein Zusammenleben mit deutschen
Kindern Wert gelegt werden.
HR
:
Sie haben das Thema Muttersprache angeschnitten.
Was ist eigentlich Muttersprache in diesem
Fall? Zumindest kann man sagen, daß
die Sozialisationssprache Deutsch ist für
die ausländischen Kinder. Die Kinder,
die hier geboren sind, brauchen diese Sprache
notwendig, um sich zurechtzufinden.
Müller:
Die Kinder, die hier geboren sind, brauchen
diese Sprache notwendig, um sich zurechtzufinden.
Leuninger:
Ich glaube schon, daß die Zweisprachigkeit, mit der wir in Deutschland wenig Erfahrung haben, und die Förderung der Zweisprachigkeit doch einen eigenen Wert hat für die Kinder, die hier bleiben werden.
HR
:
Ist das aber nicht eine Überforderung der Kinder, wenn das nicht mit den genügenden Mittel gemacht wird, so wie das leider bis heute der Fall war?
Leuninger:
In der Empfehlung der Kultusminister von 1976 wird die Förderung der Muttersprache motiviert mit der Möglichkeit der Rückgliederung. Da liegt die Problematik, da liegt die Gefahr. Wir sagen Zweisprachigkeit: Ja, aber nicht um die Möglichkeit zu haben, einen größeren Teil der ausländischen Wohnbevölkerung zurückzuschicken,
HR
:
Herr Müller, der neue Schulerlaß soll die Kinder sowohl für die Integration in die deutsche Schule als auch für die Reintegration in ihre Heimat vorbereiten. Glauben Sie, daß man zwei so gegensätzliche Ziele überhaupt zur gleichen Zeit verfolgen kann?
Müller:
Ich glaube wohl nicht, daß das in
dem Maße geht, sondern das Schwergewicht
muß einfach hier auf Integration
in das deutsche Schulsystem und Integration
in die deutsche Gesellschaft liegen. Teilweise
sind die Kinder ja hier geboren und hier
aufgewachsen, und ihre Zukunft liegt auch
hier. Ich halte die Reintegrationsphase
sicherlich für einen interessanten Aspekt, aber sie dürfte auf keinen Fall gleichrangig sein und auf keinen Fall im Schulunterricht überwiegen.
HR
:
Wie wollen Sie aber die Angst
der Eltern nehmen, daß es hier um
eine Germanisierung der Kinder geht?
Müller
Man muß mit den Eltern offen darüber
sprechen, welche Aussichten ihre Kinder
zu Hause haben und welche hier. Denn sie
sind sehr schnell 14,15 und 16 Jahre und
steigen ins Berufsleben ein. Hier ist -
das muß den Eltern klar sein - eine
Chance nur gegeben eine berufliche Ausbildung
zu machen, wenn ein deutscher Schulabschluß
vorliegt.
HR
:
Schön gesagt, aber wer macht das?
Wer spricht mit den Eltern? Die Information
über diese Sache ist sehr mangelhaft.
Müller:
Wir versuchen zumindest, soweit es unseren
Bereich angeht, auf allen Lehrgängen
und Seminaren diese Fragen, Schulfragen
- und die Eltern kommen ja als Gewerkschaftsmitglied
oder als Vater zu uns - mit in die Diskussion
einzubeziehen.
HR
:
Meine Frage war speziell auf die Medienpolitik
abgestellt, aber vielleicht kann man im
griechischen Teil die Frage noch einmal
erörtern.
HR
:
Es ist meines Erachtens bis zum Überdruss
von allen Seiten von Integration der ausländischen
Arbeiter die Rede. Auch in unserer Sendung
heute ist das Wort mehrere Mal gefallen.
Muß man, wenn der Begriff einen Sinn
haben soll, ihm nicht einen politischen
Inhalt verleihen, mit anderen Worten, müßte
Integration nicht heißen, den Ausländern
die vollen Bürgerrechte zuzubilligen?
Leuninger:
Der Integrationsbegriff, wie er zumeist
offiziell verwendet wird, geht nur von
einer teilweisen Integration - von der
sogenannten sozialen Integration - aus.
Auf dem Hintergrund der Vorstellung, daß
die Anwesenheit der ausländischen
Wohnbevölkerung tatsächlich nur
eine vorübergehende ist.
Integration ist aber ein
Prozeß, den man nicht so ohne weiteres
steuern kann, sondern der eine zwangsläufige
Entwicklung mit sich bringt. Ich denke,
daß hier in den letzten Tagen gerade
der Hessische Ministerpräsident diesen
Prozess richtig formuliert und artikuliert
hat - auch politisch - wenn er gesagt hat:
"Integration ist ein langer Prozeß und am Ende steht die volle Integration".
HR
:
Was soll man davon halten, wenn gerade
am gleichen Tag der (Bundes-) Innenminister
sagt, Deutschland sei nicht nur kein Einwanderungsland,
erst recht kein Einbürgerungsland?
Leuninger:
Ich glaube, daß die politische Linie,
die hier von Minister Baum (FDP) gezogen
worden ist, eine Linie ist, die in diesem
Falle von Ministerpräsident Börner
ein Stück weit überschritten
wurde, was m.E. realistischer und zukunftsorientierter
ist.
HR
:
Wie ist Ihre Meinung, Herr Müller?
Müller:
Ich meine, daß wenn wir ein vereinigtes
Europa wollen - da sprechen die Gewerkschaften
immer von einem Europa der Arbeitnehmer-
wir: sicherlich dann auch davon ausgehen
müssen, daß wir uns Gedanken
machen, wie soll es denn in einem Europa
der Arbeitnehmer aussehen, wie ist es mit
den politischen Rechten bestellt? Hier
hat der DGB-Bundeskongreß in dem
Schlußteil seines Antrages genau
diese Frage mitangesprochen und -aufgenommen,
daß die Arbeitnehmer in der Bundesrepublik
es so verstehen, daß eine stärkere
politische Mitwirkung und Mitbestimmung
der ausländischen Arbeitnehmer ausgebaut
wird. Ich darf daran erinnern, daß
ja die tägliche Praxis nach der Betriebsverfassung
in den Betrieben heute schon so aussieht,
daß neben dem deutschen Betriebsrat
der ausländische Kollege Rechte wahrnimmt
und im Interesse seiner Kollegen im Betrieb
handelt.
HR
:
Meinen Sie nicht, Herr Müller, daß dieses Fernziel Vereinigtes Europa eine Alibi-Funktion hat? Ist das Nahziel die volle Integration der ausländischen Arbeitnehmer hundertprozentig in. Frankreich, in Belgien - das Problem existiert ja nicht nur in der Bundesrepublik?
Müller:
Es ist sicherlich so, daß die Voraussetzungen
in den einzelnen Ländern noch sehr
unterschiedlich sind, auch unterschiedlich
diskutiert werden. In einigen Ländern
ist es sogar für ausländische
Arbeitnehmer schwierig - beispielsweise
in Frankreich - Gewerkschaftsfunktionen
zu betreiben. Ich meine, daß wir
zunächst eine Situation schaffen müssen,
daß wir gleiche Rechtsvoraussetzungen
bekommen; aber wir dürfen nicht übersehen,
daß wir auch ausländische Arbeitnehmer
aus Ländern hier bei uns haben, die
nicht zu den EG-Ländern gehören.
Leuninger:
Ich wollte ergänzend dazu sagen, daß
wir unsererseits von der Auffassung ausgehen,
daß die Integration nicht nationalstaatlich
zu lösen ist, sondern nur im europäischen
Kontext. Auch wenn das noch lange dauern
wird, müssen wir davon ausgehen, daß
wir die Schritte so setzen, daß man
als nächstes etwa das kommunale Wahlrecht
einräumt. Das ist noch nicht ein staatsbürgerliches
Recht, aber bedeutet doch ein politisches
Ja und bedeutet mehr als soziale Integration.
Vor allem bedeutet es, daß die Politiker
diesen Bevölkerungsteil nicht nur
indirekt über ihre deutsche Wähler
wahrnehmen, sondern unmittelbar als Wahlpersonen.
HR
:
Ich nehme an, daß Sie sagen wollen,
solange die Ausländer kein politisches
Gewicht bekommen, wird das Interesse der
Politiker niemals bleiben.
Leuninger:
Das Interesse ist auch ohne das kommunale
Wahlrecht in der letzten Zeit erstaunlich
gewachsen. Aber es ist nur ein indirektes
Interesse; nur insofern es sich widerspiegelt
in der Problematik, die für die deutsche
Wahlbevölkerung auftritt. Das ist
zu wenig.
HR
:
Diese Sendung läuft innerhalb eines Programms für Deutsche. Wir sind gewissermaßen zu Gast. Das verschafft uns den Vorteil, nicht nur in den jeweiligen Fremdsprachen zu ausländischen Arbeitern zu sprechen, sondern auch mit den Problemen deutsche Hörer zu erreichen. Wir halten es für ein Stückchen Integration, zumal die ausländischen Jugendlichen die deutschen Schlager oft besser beherrschen als ihre Muttersprache und obwohl der Begriff der Muttersprache sehr dubios ist. Deutsch ist auf alle Fälle die Sozialisationssprache. Aber "Rendezvous in Deutschland" - unsere Sendung - ist ein Einzelfall.
Wie ist Ihre Meinung über
die Medienpolitik hinsichtlich der Gastarbeiter?
Glauben Sie, daß die ausländischen
Arbeitnehmer genügend mit Informationen
und Unterhaltung versorgt werden?
Müller:
Ich glaube sicherlich, daß das noch
zu wenig ist. Ich könnte mir vorstellen,
daß einmal über den Weg von
verstärkten Rundfunksendungen und
Fernsehsendungen auch alle die Hörer
erreicht werden, die Schwierigkeiten hatten
in ihrer persönlichen Ausbildung schriftliches
Material verfolgen zu können, Darüberhinaus
meine ich, daß auch Tageszeitungen
und Zeitungen, die für ausländische
Arbeitnehmer gemacht sind, auch wesentlich
mehr über die Gesellschaft, in der
sie hier leben, berichten müßten,
z.B. über Institutionen, über
Schulfragen, über den Schulweg. Häufig
ist es so, Daß dann, wenn man die
Information erhalten hat, es für den
entscheidenden Schritt, das Schulsystem
zu verändern oder eine andere Schule
zu wählen, zu spät ist.
HR
:
Sie sind nicht nur nicht richtig informiert,
sondern auch von anderer Seite sehr stark
manipuliert. Das ist die größte
Gefahr. Es gibt politische Kräfte
aus den jeweiligen Heimatländern,
die ein sehr starkes Interesse daran haben,
ihre konservative Haltung zur Frage der
Schulpolitik mit konservativen Kräften
hier zu verbinden.
Leuninger:
Ich glaube die Informationspolitik und
die Medienpolitik sollte sich stärker
als bisher auf die zweite Generation einstellen.
Dabei wird, das Sprachproblem nicht mehr
so vorrangig sein, wie es das bis jetzt in den verschiedenen Medien war. Dennoch gehe ich davon aus, daß man Rücksicht nehmen muß auch auf die erste Generation und auch auf einen Teil der zweiten Generation und zwar hinsichtlich der Sprache und des kulturellen Hintergrundes. Aber ich meine, hier bestünden große Chancen medienpolitisch den europäischen Gedanken, in der Art und Weise, wie wir künftig Sendungen machen, zum Ausdruck zu bringen. D.h. daß wir eben nicht nur das nationale Element sehen, sondern daß wir von der Tatsache ausgehen, Medienpolitik ist Kommunikationspolitik in einer Gesellschaft, die sich ethnisch unterschiedlich zusammensetzt.
HR:
Das beste Beispiel ist unsere Sendung heute.
Wir bedanken uns für Ihren Besuch
hier im Studio.
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