Herbert Leuninger

ARCHIV MIGRATION
1979


GESICHTSPUNKTE ZUR VERÄNDERUNG DES AUSLÄNDERGESETZES UND SEINER AUSFÜHRUNGSBESTIMMUNGEN

(Text wurde am 1. Mai 1979 verfaßt)

INHALT

Die "Belange der Bundesrepublik" als Einwanderungsland erfordern eine konsequente Integrationspolitik und eine Änderung des Ausländergesetzes und seiner Ausführungsbestimmungen.

1. Als 1965 das neue Ausländergesetz in Kraft trat, wurde es fast allenthalben als das liberalste der Welt bezeichnet. Seine einzelnen Paragraphen belassen den Ausländerbehörden einen weiten Ermessensspielraum, der nur durch besondere Verwaltungsvorschriften im gewissen Sinne eingeschränkt wird.

Nach dem Ausländergesetz darf einem Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn seine Anwesenheit die "Belange der Bundesrepublik" nicht beeinträchtigt. Er kann ausgewiesen werden, wenn u.a. "seine Anwesenheit erhebliche Belange der Bundesrepublik Deutschland" beeinträchtigt. Diese Begriffe sind nirgends genau umschrieben und führen zwangsläufig zu einer zeitlich und geografisch divergierenden Verwaltungspraxis.

Daher kann das Ausländergesetz durchaus als liberal gelten, wenn es liberal gehandhabt wird. Spätestens seit Beginn der Rezession im Jahre 1973 wurde aber deutlich, welche restriktiven Möglichkeit es bietet. Seine Handhabung hängt zu sehr ab von den sich wandelnden wirtschaftlichen, politischen und sozialen Rahmenbedingungen. Die damit für den Ausländer verbundenen Rechtsunsicherheit macht die Forderung verständlich, die ausländerrechtlichen Bestimmungen so zu fassen, daß die Behörden möglichst klare und eindeutige Richtlinien für ihre Entscheidungen haben. Dies ist ein wichtiges Erfordernis unseres Rechtsstaates.

Das Ausländergesetz basiert auf Vorstellungen des Ordnungs- und Polizeirechts, das den Ausländern gegenüber eine eher abwehrende und disziplinierende Haltung einnimmt. Der Ausländer, sein Kommen und seine Anwesenheit werden eher negativ eingestuft. Damit entspricht das Ausländergesetz weder der faktischen Einwanderung, die durch die Beschäftigung von Millionen ausländischer Arbeitnehmer in der Bundesrepublik ausgelöst wurde, noch den Vorstellungen der Freizügigkeit, die für den europäischen Einigungsprozess bestimmend sind. Das Ausländergesetz ist zwar für EG-Angehörige in wichtigen Punkten durchlöchert. Dennoch hebt dies seinen im Grunde ausländerabwehrenden Charakter nicht auf, der sich am deutlichsten in den Ausweisungsmöglichkeiten abzeichnet.

2. Die abwehrende Haltung gegenüber Ausländern hat sich in den letzten Jahren durch die relativ hohe Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik verstärkt. Das eigentliche Abwehrdenken kommt aber eher aus den nationalstaatlichen Vorstellungen, wie sie heute noch in allen Staaten selbstverständlich sind. Dieser nationalstaatliche Vorbehalt begründet den entscheidenden Vorrang des Staatsbürgers vor dem Nichtstaatsbürger. Die Internationalisierung von Wirtschaft und Politik, die gegenseitigen Verflechtungen auf fast allen Gebieten, lassen aber auf Dauer eine nationalstaatliche Betrachtung immer unzeitgemäßer erscheinen. Je weiter dieser Prozess voranschreitet, desto mehr, müssen sich auch die konventionellen Vorstellungen vom Ausländer und die darauf beruhenden gesetzlichen Bestimmungen verändern. Eine entscheidende Anfrage an unser Ausländergesetz kommt aber von der de-facto-Einwanderung her, die sich im Rahmen einer langjährigen Ausländerbeschäftigung ergeben hat. Als das Ausländergesetz beschlossen wurde, gab es zwar bereits etwa eine Mio. ausländischer Arbeitskräfte, die in unser Land geholt worden waren, dennoch wurde ihre Anwesenheit als provisorisch betrachtet. Man ging davon aus, daß diese Arbeitskräfte - je nach konjunkturellem Bedarf - geholt und wieder weh geschickt werden konnten, und daß die Arbeitnehmer aus den verschiedenen Entsendeländern selbst in die Bundesrepublik kamen, um nach einer begrenzten Frist wieder zu ihren Familien zurückzukehren, Eine politische Grundvorstellung, die bis heute offiziell aufrecht erhalten wird, geht davon aus, daß die Bundesrepublik kein Einwanderungsland ist.

Natürlich sind solche Vorstellungen längst durch die Entwicklung überholt. Trotz eines Rückgangs der Ausländerbeschäftigung seit der Rezession um etwa 25 % ist die Zahl der Ausländer in der Bundesrepublik durch Geburten und Familiennachzug nahezu konstant bei ca. 4 Millionen verblieben. 1965/66 gab es auf den Schulen der Bundesrepublik nur 35.000 ausländische Schüler, 1977 waren es 12 mal mehr, nämlich 434.503. Mit den noch nicht schulpflichtigen Kindern lebten im September 1978 953.000 nichtdeutsche Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren in der Bundesrepublik. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer dieser Bevölkerungsgruppe steigt trotz beachtlicher Fluktuation immer mehr an. 45 % der Ausländer leben 8 Jahre und länger bei uns. Es handelt sich hierbei um einen Einwanderungsprozess, der nicht mehr rückgängig gemacht werden kann.

Diese Entwicklung konnten die Väter des Ausländergesetzes nicht im Blick haben. Ihr Vorstellungsvermögen reichte wohl nicht aus, um das Gesetz so zu formulieren, daß es auch den legitimen Bedürfnissen einer zweiten und dritten Einwanderergeneration entsprechen konnte. Auch heute fehlen uns noch die Begriffe um die veränderte Situation zu erfassen. Sind junge Menschen, die zwar formal gesehen nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, aber hier geboren wurden und aufgewachsen sind, Ausländer? Das Heimatland ihrer Eltern ist ihnen entweder bereits entfremdet oder sie kennen es nur vom Familienurlaub her. Ihr Lebensschwerpunkt und der ihrer Familie liegt in der Bundesrepublik. Das Ursprungsland ihrer Väter und Mütter ist für sie im gewissen Sinne Ausland. Daher ist eine Ausreise aus der Bundesrepublik für sie nicht eine Reintegration und Rückkehr, sondern eher eine Auswanderung.

3. Das Gesetz wertet sie aber nach wie vor als Ausländer und stellt sie auch unter die einschränkenden Bestimmungen von Ausländern, deren Aufenthalt ein prinzipiell vorübergehender ist. ihnen hat man einen Gaststatus gewährt, der es erforderlich macht, sich der deutschen Umgebung tunlichst anzupassen, um nicht aufzufallen. Denn irgendwie droht die Nichtverlängerung der Aufenthaltserlaubnis oder sogar die Ausweisung.

Ausländer können ausgewiesen werden, wenn sie die freiheitliche demokratische Grundordnung oder die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährden, wegen einer Straftat verurteilt worden sind, die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet oder Fürsorgeerziehung in einem Heim durchgeführt wurde. Weitere Gründe für die Ausweisung können u.a. sein:

  • die Gefährdung der öffentlichen Gesundheit oder Sittlichkeit,
  • die Inanspruchnahme von Sozialhilfe zur Bestreitung des Lebensunterhaltes und, wie eingangs bereits erwähnt,
  • die Beeinträchtigung erheblicher Belange der Bundesrepublik.

Diese Bestimmungen sind keineswegs nur theoretisch zu verstehen, sie werden angewendet, vor allem auch nichtdeutschen Jugendlichen gegenüber, die straffällig geworden sind. Da das Ausländergesetz von Individuen und nicht von Familien ausgeht, und einen Einwanderungsvorgang in der Größenordnung von Hunderdtausenden, ja Millionen nicht kennt, sind solche Ausweisungen als eine Selbstverständlichkeit angesehen worden. Allerdings gibt es kein Muß für eine Ausweisung, es handelt sich um eine Kann-Vorschrift.

Die Bundesrepublik beginnt sich ernsthaft der Aufgabe zu stellen, die zweite und dritte Einwanderergeneration der nichtdeutschen Arbeiterbevölkerung zu integrieren. Diese Eingliederung darf die straffällig gewordenen Jugendlichen nicht einfachhin ausschließen. Unser Strafrecht ist auf Re-Sozialisierung gerade junger Menschen eingestellt. Eine solche Re-Sozialisierung wird aber von vorneherein zum Scheitern verurteilt, wenn am Ende des Strafvollzugs oder auch der Strafaussetzung eine Ausweisung droht.

Es mögen derzeit Zahlen erschrecken, die in den Großstädten eine hohe Kriminalität von Jugendlichen mit anderer Muttersprache aufzeigen. Redlicherweise darf sich aber niemand darüber wundern. Erfahrungsgemäß sind mit Aus- bzw. Einwanderung immer auch soziale Entwurzelungen verbunden, die gesellschaftlich unangepaßtes Verhalten mit sich bringen. Es kommen hinzu, eine unzulängliche schulische Versorgung, hohe Arbeitslosigkeit und schließlich eine halbherzige Integrationspolitik,

Der damit verbundenen höheren Kriminalitätsbelastung kann nicht dadurch begegnet werden, daß das Ausländergesetz mit seinen Ausweisungsmöglichkeiten undifferenziert zum Zuge kommt. Wer die faktische Einwanderung toleriert hat, darf nicht in einer völligen Realitätsferne von großen Bevölkerungsteilen ausgehen, bei denen Straffälligkeit ausgeschlossen ist, bzw, diese zu Maßnahmen führt, die die Desintegration noch fördern und eine Ungleichbehandlung gegenüber den Einheimischen zum Prinzip erhebt, Für hier ansässig gewordene Menschen bedeutet eine Ausweisung nicht nur eine Doppelbestrafung, die rechtlich auszuschließen ist, sondern im gewissen Sinne so etwas wie eine unzulässige Verbannung in fremdes Land.

Einwanderung bedeutet für das entsprechende Aufnahmeland, daß es im Rahmen der Gleichbehandlung ausländerrechtliche Maßnahmen abbaut und in Kauf' nimmt, daß die potentiellen oder wirklichen Einwanderer im vergleichbaren Umfang gegen Gesetze verstoßen, Überdies ist vorstellbar, daß eine Ausweisungspraxis größeren Stils die Beziehungen zu den Entsendeländern belasten könnte, die verständlicherweise nicht gewillt sind, den von unserer Gesellschaft zu verantwortenden "Problemexport" aufzunehmen.

Wenn es hinsichtlich der Ausweisung von Ausländern zu einer veränderten Rechtspraxis kommen soll, muß allerdings auch die Vorstellung von der Generalprävention überprüft werden, die es auch nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichtes erlaubt, Ausländer zur allgemeinen Abschreckung anderer Ausländer auszuweisen, wenn der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet wurde. Um diese Verhältnismäßigkeit wird es aber in der künftigen Debatte gehen müssen. Sie ist doch wohl kaum dann gegeben, wenn es sich, wie gerade bei den ausländischen Jugendlichen, um einen Personenkreis handelt, bei dem es neben der Bundesrepublik keine vertretbare Alternative für einen Daueraufenthalt gibt. Hier kann man sich bereits an der Auffassung des Europäischen Gerichtshofs ausrichten, wonach die Ausweisung eines EG-Angehörigen aus einem Mitgliedstaat zum Zwecke genereller Abschreckung anderer Ausländer unzulässig ist.

4. Die am 1.Oktober 1978 in Kraft getretenen neuen Verwaltungsvorschriften zur Ausführung des Ausländergesetzes sollen ein Schritt nach vorn sein, um den aufenthaltsrechtlichen Status der ausländischen Mitbürger zu verbessern. So soll jetzt nach fünfjährigem Aufenthalt die unbefristete Aufenthaltserlaubnis und nach acht Jahren die Aufenthaltsberechtigung erteilt werden. Allerdings sind diese Statusverbesserungen, auf die kein Rechtsanspruch besteht, an die Erfüllung bestimmter Voraussetzungen geknüpft, wie der Besitz der besonderen Arbeitserlaubnis, der Nachweis von Sprachkenntnissen, die Erfüllung der Schulpflicht bei den Kindern und an das Vorhandensein einer angemessenen Wohnung. Für die Erteilung der Aufenthaltsberechtigung muß der Antragsteller durch das Beibringen der verschiedensten Unterlagen nachweisen, daß er sich in das wirtschaftliche und soziale Leben der Bundesrepublik eingefügt hat.

Es wird jetzt an der Zeit sein zu prüfen, ob die beabsichtigte Absicherung des Aufenthalts für den begünstigten Personenkreis auch wirksam wird. Schon werden ernstzunehmende Stimmen laut, die die Befürchtung hegen, die bürokratischen Hürden könnten letztlich so hoch sein, daß nur ein kleiner Teil der ausländischen Arbeitnehmer in den Genuß der Vergünstigungen kommt. Das bezieht sich nicht zuletzt auf das Erfordernis einer angemessenen Wohnung. Ganz abgesehen davon, daß von Deutschen ein ähnlicher Nachweis nicht verlangt wird, ist es für die ausländischen Familien sehr schwer, eine nach deutschen Vorstellungen angemessene Wohnung zu erschwinglichen Preisen zu finden. Sind doch ausländische Familien in passablen Wohngegenden ungern gesehen, und verlangen die Vermieter auch vergleichsweise überhöhte Mieten bei Ausländern,

Es wird in diesem Zusammenhang immer deutlicher, daß unsere ausländerrechtlichen Vorstellungen noch nicht genügend auf die Bedürfnisse und das Leistungsvermögen einer Arbeitnehmerschicht ausgerichtet sind. Bei der Überprüfung, ob sich ein ausländischer Arbeitnehmer in das wirtschaftliche und soziale Leben eingefügt hat, geht man von einem abstrakt vorgestellten Mittelschichtenwesen aus. Dieses muß den Vorstellungen der entsprechenden deutschen Schicht angepaßt sein, um von den Behörden für einen möglichen Daueraufenthalt akzeptiert zu werden. Ein noch gewagteres Unterfangen dürfte für einen nichtdeutschen Arbeitnehmer eine Einbürgerung sein. Sie ist eine nur ungern gewährte Gnade, die eigentlich eher privilegierten Schichten und Personen vorbehalten ist.

5. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die Belange der Bundesrepublik eine konsequente Integrationspolitik erfordern und eine Änderung des Ausländergesetzes und seiner Ausführungsbestimmungen unumgänglich machen. Im Einzelnen könnte das heißen:

  • Die ausländischen Arbeitnehmer und ihre Angehörigen werden auf den Arbeitsmarkt nicht nachrangig behandelt,
  • Sie erhalten einen Rechtsanspruch auf eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis nach fünf Jahren und eine Aufenthaltsberechtigung nach acht Jahren.
  • Die Einbürgerung nach zehn Jahren Aufenthalt in der Bundesrepublik wird erleichtert. Jugendliche, die hier geboren wurden und aufgewachsen sind, erhalten ein Recht auf Einbürgerung.
  • Das Kommunalwahlrecht wird nach fünfjährigem Aufenthalt gewährt.
  • Die Ausweisungstatbestände werden auf schwerwiegende Delikte und Verbrechen beschränkt.
  • Die Ausweisung von Personen, die hier geboren wurden bzw. aufgewachsen sind, wir generell ausgeschlossen.