Herbert Leuninger

ARCHIV MIGRATION
1979

Nassauische Landeszeitung
Nr. 253 vom 30.10. 1979
- Sonderbeilage -

Man hat Arbeitskräfte gerufen – und Kinder kommen...

INHALT
Die deutsche Gesellschaft muss ein positives Verhältnis zu den Jugendlichen anderer Muttersprache bekommen. Im Jahre des Kindes ist wohl eine entscheidende Umstimmung im Gange. Sie gründet sich vor allem auf die Erkenntnis, dass die Bundesrepublik ein Einwanderungsland geworden ist.

Juan Gonzalez aus Wetzlar will hoch hinaus! Und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Er möchte Flugzeugführer werden. Also schreibt er an die Deutsche Lufthansa in Hamburg. und bewirbt sich für die Pilotenlaufbahn. Die Voraussetzung hierfür ist allerdings das Abitur. Das hat Juan (18) zwar noch nicht in der Tasche, es besteht aber die begründete Aussicht, es im nächsten Jahr an einem Wetzlarer Gymnasium zu bestehen. Nun wartet Juan ungeduldig auf Antwort. Als sie eintrifft, fällt der junge Spanier aus allen Wolken. In einem fünfzeiligen Brief heißt es: „Wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass wir hinsichtlich der Staatsangehörigkeit behördlichen Auflagen unterliegen, die es nicht erlauben, von Ihrem Angebot Gebrauch zu machen." Juan braucht sich also nicht einmal vorzustellen; als junger Mann mit spanischer Staatsangehörigkeit kommt er für die Lufthansa nicht in Frage.

Träumerei?

Sein Vater wundert sich nicht, er hat nichts anderes erwartet und den Berufswunsch seines Sohnes als Träumerei eingestuft. Dennoch schmerzt es ihn, wie sehr sein Sohn von dieser Absage betroffen ist. Er wendet sich an die zuständige Wohlfahrtsorganisation und bittet, - sich doch für seinen Sohn zu verwenden. Dieser lebe bereits seit seinem ersten Lebensjahr in der Bundesrepublik und besitze eine unbefristete Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis.

Das ist keine Selbstverständlichkeit. Ein junger Nichtdeutscher benötigt vom 16. Lebensjahr an eine Erlaubnis, um sich rechtmäßig in der Bundesrepublik aufzuhalten. Sie wird ihm anstandslos erteilt, wenn er mit der Familie hier lebt. Ohne Aufenthaltserlaubnis müsste er in die Heimat der Eltern zurück, denn normalerweise ist eine Aufenthaltserlaubnis auf ein oder zwei Jahre befristet. Läuft die Frist ab, wird wieder der Gang zur Ausländerbehörde notwendig. Nur wer fünf Jahre ununterbrochen im Bundesgebiet gelebt hat, kann die Aufenthaltserlaubnis als unbefristete erhalten. Eine derartige unbefristete Aufenthaltserlaubnis besitzt Juan, ebenso wie seine Eltern übrigens. Das verschafft der Familie eine große Sicherheit über ihren zukünftigen Verbleib in der Bundesrepublik.

Will Juan aber eine Arbeit aufnehmen oder eine Berufsausbildung anstreben, benötigt er hierfür eine zusätzliche behördliche Erlaubnis vom Arbeitsamt. Er kann sie nur erhalten, wenn kein Deutscher oder diesem gleichgestellter Ausländer auf denselben Arbeits- bzw. Ausbildungsplatz Anspruch erhebt. Dann müsste Juan zurücktreten. An diese Regelung scheint man sich bei der Lufthansa dunkel zu erinnern. Wesentlich besser dran ist Juan, wenn sein Vater und seine Mutter fünf Jahre ununterbrochen hier tätig waren und eine besondere Arbeitserlaubnis besitzen. Dann hat auch Juan Anspruch, Arbeit bzw. Ausbildung aufzunehmen.

Eine Rückfrage des eingeschalteten Caritasverbandes beim Bundesverkehrsministerium, was das denn wohl für behördliche Auflagen seien, die es verbieten, Herrn Gonzalez als Bewerber für die Pilotenlaufbahn anzunehmen, ergibt nichts anderes, als dass nach der Arbeitserlaubnisverordnung für die Arbeitnehmer außerhalb der Europäischen Gemeinschaft eine Arbeitserlaubnis erforderlich sei.

Das ist die Stunde des Triumphes für Juan! Er ist stolzer Besitzer einer unbefristeten Arbeitserlaubnis, die für das ganze Bundesgebiet und West-Berlin gilt. Aber danach hatte die Lufthansa erst gar nicht gefragt. So bleibt ihr nichts anderes übrig, als eine „Kehre" zu fliegen. Sie erklärt sich nachträglich bereit, die Bewerbung von Juan Gonzalez anzunehmen. Während aber die Briefe zwischen Bundesverkehrsministerium, Lufthansa und Caritasverband hin und hergingen, hat Juan seinen luftigen Berufswunsch aufgegeben. Zehn Monate sind seit der Antragstellung vergangen, das Abitur ist geschafft. Juan belegt Philosophie an der Frankfurter Universität. Nach einigen Semestern will er sich dann entscheiden, ob er sich doch noch als Flugzeugführer bewirbt oder Arzt wird. _

Ein Mischmasch

Bei Juan ist ein bitterer Geschmack auf der Zunge geblieben. Natürlich, vom Pass her ist er noch Spanier. Aber schließlich lebt er seit 17 Jahren in der Bundesrepublik, Er spricht perfekt deutsch und ist in der Lage, alle in dieser Gesellschaft gebotenen Bildungsgänge zu durchlaufen. Dennoch wird er von Gesetzes wegen immer noch als Ausländer behandelt; und für diese gilt ein eigenes Gesetz, das Ausländergesetz. Dieses betrachtet den Ausländer als eine Person, dessen Aufenthalt in der Bundesrepublik seiner Natur nach nur vorübergehend ist. Das Gesetz kennt auch nur Deutsche oder Ausländer. Aber was ist mit Juan Gonzales oder etwa Ester Sanchez, vom Pass her ebenfalls eine Spanierin? Auf die Frage: „Als was fühlen Sie sich eigentlich, als Deutsche oder als Spanierin?", antwortet die 18jährige in einwandfreiem Deutsch: „Ich bin weder eine Deutsche noch eine Spanierin!" „Was sind Sie denn ? Ein Mischmasch!"

Was für dieses Mädchen ungeklärt ist, bereitet seinen Eltern selbstverständlich kein Problem. Sie sind Spanier. Und sie fühlen sich selbst nach langen Jahren der Auswanderung weiterhin als solche. Auch ihre Tochter betrachten sie als Spanierin, selbst wenn sie bereits als kleines Mädchen nach Deutschland gekommen ist und in einer deutschen Umgebung groß wurde. Für Ester, allerdings ist Spanien nur noch ein interessantes Urlaubsland.

„Heimat"

Wie Juan und Ester geht es Hunderttausenden junger Menschen, deren Eltern aus Italien, Jugoslawien, Griechenland, aus der Türkei, Portugal und eben auch aus Spanien stammen. Mehr als eine Million von ihnen ist inzwischen in der Bundesrepublik groß geworden bzw. aufgewachsen. Die Bundesrepublik ist ihre Heimat, während die Heimat ihrer Eltern und Großeltern für sie Fremde bedeutet. Diese Generation man nennt sie die zweite oder auch dritte Generation der ausgewanderten nichtdeutschen Arbeitnehmer, lebt in Deutschland ohne genau zu wissen, wo sie hingehört.

Das unterscheidet sie wesentlich von der ersten Generation. Diese ist nach Deutschland gekommen in der Absicht, in möglichst kurzer Zeit möglichst viel Geld zu verdienen. Dann wollte man in die Heimat zurückgehen in der Erwartung, sich eine sichere Existenz mit dem ersparten Geld schaffen zu können. Der nur für eine begrenzte Zeit geplante Aufenthalt im Ausland ist aber inzwischen immer länger geworden: Frauen sind mit Kindern nachgereist, Ehen werden geschlossen, und immer mehr Kinder erblicken hier das Licht der Welt. Es sind jährlich zwischen 70 000 und 90 000.

Damit hatten die Politiker nicht gerechnet, als sie vor mehr als 20 Jahren dem Drängen der Wirtschaft nachgaben und nichtdeutsche Arbeitnehmer in Ländern mit hoher Arbeitslosigkeit anwerben ließen. Im Wirtschaftsaufschwung waren bekanntlich Mitte der fünfziger Jahre die Arbeitskräfte knapp geworden. So sandte die Bundesanstalt für Arbeit besondere Kommissionen ins Ausland, um unzählige junge, kräftige und gesunde Männer und Frauen für die deutsche Wirtschaft zu gewinnen. Sie wurden vornehmlich dort eingesetzt, wo deutsche Arbeitskräfte nicht mehr zur Verfügung standen: Bei schweren, schlecht bezahlten und ungesunden Arbeiten, in Bereichen mit Fließband-, Schicht- und Wochenendarbeit. Politiker und Unternehmer dachten damals, dass die fleißigen und sparsamen Ausländer nur vorübergehend hier verblieben, um durch einen nie versiegenden Nachschub neuer Arbeitskräfte ersetzt zu werden. Schließlich waren im September 1973, dem Höhepunkt der Ausländerbeschäftigung, 2,6 Mio. Arbeitnehmer aus den verschiedensten Ländern bei uns tätig.

Dann setzte die Wirtschaftskrise mit anhaltender Arbeitslosigkeit ein, die Bundesregierung verhängte einen Anwerbestop und ließ die Arbeitsämter anweisen, die bereits hier tätigen nichtdeutschen Arbeitnehmer nur noch dann in neue Arbeit zu vermitteln bzw. ihre Arbeitserlaubnis zu verlängern, wenn hierfür keine deutschen oder ihnen gleichgestellte ausländische Arbeitnehmer mehr zur Verfügung stehen. Fünf Jahre später haben wir 700 000 nichtdeutsche Arbeitnehmer weniger. Aber immerhin, trotz relativ hoher Arbeitslosigkeit, sind weiterhin 1,9 Mio. Menschen anderer Muttersprache bei uns tätig. Es zeigt sich deutlich, dass unsere Wirtschaft ohne die nichtdeutschen Arbeitnehmer überhaupt nicht mehr funktionieren könnte.

Ein weiteres überraschendes Phänomen ist die Tatsache, dass trotz des Rückgangs der Beschäftigung nichtdeutscher Arbeitnehmer um mehr als 25 Prozent die Zahl der in der Bundesrepublik lebenden Menschen anderer ethnischer Herkunft nur unwesentlich zurückgegangen ist. Es sind immerhin knapp 4 Millionen, von denen 1 Million bereits 10 Jahre und länger unter uns lebt. Man kann davon ausgehen, dass der größte Teil der Nichtdeutschen - vor allem die, die hier aufgewachsen sind - auf Dauer in der Bundesrepublik bleibt. Für sie ist Deutschland ein Einwanderungsland geworden. Das geflügelte 'Wort von Max Frisch „Man hat Arbeitskräfte gerufen, und Menschen kommen" bedarf einer Abwandlung und könnte lauten: Man hat Arbeitskräfte gerufen und Kinder kommen."

Es wächst die Einsicht, dass Deutsche und Mitbürger anderer Muttersprache in unseren Gemeinden und Städten es lernen müssen, miteinander zu leben. Wenn in diesem Zusammenhang von Integration oder Eingliederung gesprochen wird, ist dies absolut kein einseitiger Vorgang. Menschen verschiedener ethnischer Herkunft, die im gleichen Gemeinwesen wohnen, müssen sich aneinander anpassen, sich gegenseitig akzeptieren, aufeinander zugehen und Toleranz üben.

Ester Sanchez hat Deutsche und Spanier als Freunde. Zu ihrem Bekanntenkreis zählen auch junge Griechen, Türken, Jugoslawen und Portugiesen, eine internationale Gesellschaft im Kleinen, vielleicht sogar der Typ einer neuen Gesellschaft überhaupt. Unter diesen jungen Leuten fühlt sich Ester jedenfalls sehr akzeptiert, da gilt sie nicht als Fremde: „Man mag sich, oder man mag sich nicht, da spielt Nationalität keine Rolle". So sehr sich das Mädchen in die hiesigen Verhältnisse eingelebt hat und so „international" ihre Kontakte sind, hat sie doch eine geheime Vorliebe für das Spanische. Sie findet die spanische Art zu leben faszinierend. Da sei alles so vibrierend und lebendig.

Auch Ester ist eine Ausnahme, nicht nur weil sie mindestens zwei Sprachen fließend spricht, sondern weil sie viele Kontakte zu Deutschen hat. Und mit solchen gegenseitigen Kontakten, die für jede Eingliederung notwendig sind, sieht es ansonsten nicht besonders gut aus, In Frankfurt befragte Italiener und Türken wohnen fast zur Hälfte nur mit eigenen Landsleuten oder mit Angehörigen anderer Nationalitäten zusammen. Daher nimmt es nicht wunder, wenn 70 Prozent der Ausländer keinen regelmäßigen Kontakt zu Deutschen haben. Wo sie ihn haben, suchen sie bei den Einheimischen vor allem Rat und Hilfe und besprechen mit ihnen ihre besonderen Probleme. Auch geselliges Zusammensein und Unterhaltung spielen über die Sprachbarrieren hinaus ebenfalls eine große Rolle. Man lädt sich gegenseitig zu Familienfesten, wie Geburtstagen, Hochzeiten oder Taufen ein.

Es ist oft zu hören, Ausländer wollten keine Kontakte zu den Deutschen. Dies kann aber die Untersuchung der „Arbeitsgruppe Soziale Infrastruktur" an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität, Frankfurt, nicht bestätigen. Italiener und Türken wünschen sich stärkere Kontakte zu deutschen Bürgern. Wo sie ihn besonders gut finden und pflegen könnten, sind sie aber kaum vertreten, vielleicht auch nicht sonderlich willkommen, in den Vereinen nämlich. Nur 7 von 100 gehören einem deutschen Fußballklub, einem Sportverein oder einer anderen Vereinigung an. Aber auch in eigenen landsmannschaftlichen Vereinen ist nur jeder 10. organisiert.

In Hadamar

Das Beispiel Hadamar zeigt, dass es auf deutscher Seite nicht viel anders aussieht. Dort wurden im Rahmen einer Repräsentativuntersuchung, ebenfalls durch junge Wissenschaftler aus Frankfurt, 350 Bürger befragt. Die gleichen Fragen wurden dann in Frankfurt, Ahlen, Coburg und Usingen gestellt. Wie nun steht die Bevölkerung von Hadamar zu den Mitbürgern, die aus anderen Ländern stammen? Ob in ihrem Haus auch Ausländer wohnen, konnten nur 3 Prozent der befragten Hadamarer mit Ja beantworten. Dann wollten die Interviewer wissen, wer denn Kontakt mit Ausländern habe, die entweder oder auch in der Nachbarschaft wohnten. Hier mussten 90 Prozent passen. Sie hatten keinen Kontakt. Nur 9 von 100 konnten angeben, entweder gelegentlich oder regelmäßig Verbindung mit Nichtdeutschen zu haben. Allerdings ist hierbei zu berücksichtigen, dass nur Kontakte im Haus oder in der Nachbarschaft erfragt waren, nicht aber Kontakte am Arbeitsplatz oder in der Freizeit. Daher dürften die Anteile der deutschen Bürger, die in irgendeiner Form mit Ausländern zu tun haben, höher liegen. Bei der ganzen Untersuchung zeigte sich, dass jüngere Deutsche sich leichter tun als ältere, keine Vorbehalte gegen Ausländer zu haben. Auch konnte bei Bürgern, in deren Haus auch Ausländer leben, und die Kontakte mit ihnen in der Nachbarschaft pflegen, eine offenere Haltung diesen gegenüber festgestellt werden. Freilich können die Wissenschaftler nicht sagen, ob der Kontakt mit Ausländern dann zustande kommt, wenn der Betroffene hierfür bereits aufgeschlossen ist, oder ob sich die Aufgeschlossenheit erst aus dem Kontakt ergibt. Vielleicht hängt aber das eine mit dem anderen zusammen. Jedenfalls gilt hierfür wie für alle anderen Lebensbereiche: Nur das, was ich kenne, kann ich schätzen. Vorurteile sind dort am stärksten ausgeprägt, wo das Fremde und die Fremden fremd bleiben. Das gilt natürlich für beide Seiten, für Einheimische wie für Einwanderer.

„Ängste"

Die Frage ist, wo die Deutschen und die Nichtdeutschen und die Zugewanderten die Einheimischen am besten kennen lernen. Naturgemäß am Arbeitsplatz und in der Schule. Das setzt allerdings voraus, dass die beiden Gruppen nicht getrennt voneinander arbeiten oder unterrichtet werden. Denn dann ist der gegenseitige Lerneffekt gleich Null. Sich voneinander abzuschließen ist eine Tendenz, die weit verbreitet ist. Dahinter stecken vermutlich Ängste. Bei den Deutschen etwa die Angst, sie müssten Abstriche von ihrer Lebensart machen und könnten vielleicht sogar überfremdet werden. Bei Menschen, die aus anderen Kulturen kommen, gibt es immer wieder die Sorge, sie und ihre Kinder könnten total eingedeutscht oder germanisiert werden. Es wäre falsch, diese Ängste nicht ernst zu nehmen. Sie sind eingestanden oder auch uneingestanden vorhanden und beeinflussen das Verhalten. Abgebaut werden können solche Ängste nur, wenn ein gegenseitiges Vertrauen wächst und die Bereitschaft vorhanden ist, voneinander zu lernen. Diese Fähigkeit und Bereitschaft nimmt mit dem Alter ab. Erwachsene tun sich immer schwerer, Gefühle und Einstellungen zu verändern.

Daher richtet sich die Hoffnung auf die junge Generation. Sie ist durchaus in der Lage, fast noch spielend zu lernen, wie man gut miteinander auskommt und einen gemeinsamen Lebensstil entwickelt. Wie dieser Lebensstil aussehen

Könnte, lässt sich noch nicht sagen. Die Jugend wird ihn finden müssen. Kirchenvertreter und Politiker sprechen bereits von einer multikulturellen und multiethnischen Gesellschaft, vor allem in unseren Großstädten. Eins lässt sich auf jeden Fall sagen: entweder finden die jungen Leute in überzeugender Weise zueinander, oder es kommt zu großen inneren Spannungen in unseren Kommunen. Wenn die Erwachsenen selbst vielleicht trotz besten Willens nicht mehr in der Lage sind umzulernen, haben sie durchaus die Verantwortung für die zukünftige Entwicklung.

Im Kindergarten

Als Zentren geglückter Integration entwickeln sich unsere Kindergärten, wo Kinder aus aller Herren Länder miteinander aufwachsen. Hier entwickelt sich in geradezu spielerischer Form eine neue Gesellschaft, auf die wir in den Ballungsgebieten zugehen. Die kleinen Griechen, Türken, Spanier, Deutsche, Asiaten, Jugoslawen, Italiener und Portugiesenhaben die allerwenigsten Schwierigkeiten, miteinander auszukommen. Für sie ist die multiethnische Gesellschaft, die aus Menschen unterschiedlichster, sprachlicher, nationaler Herkunft zusammengesetzt ist, bereits nach einigen Monaten eine Selbstverständlichkeit. Erfahrungen, die im Kindergarten gemacht werden, wirken sich auf das gesamte künftige Leben aus. Wenn schon Jugendliche nicht nach Nationalität und Pass fragen, tun dies Kinder im Vorschulalter erst recht nicht.

Vielleicht ist ein geglücktes Zusammenleben aller in Deutschland geborenen Kinder im Kindergarten der wichtigste Beitrag für die zeitgemäße Erziehung von deutschen und nichtdeutschen Kindern. Und selbst die Erzieherinnen im Kindergarten, die auf ein solches Zusammenleben nicht vorbereitet sind, können hier von den Drei- und Vierjährigen lernen.

Wenn überdies für jedes Kind der Besuch eines Kindergartens von größtem Nutzen ist, gilt dies für das Kind nichtdeutscher Eltern noch viel mehr. Hier spielt der Erwerb der deutschen Sprache eine entscheidende Rolle. In der Familie erlernt das Kind die Sprache der Mutter, seine Muttersprache. Bei den ausländischen Familien, wird selbstverständlich kaum oder nur unzulänglich deutsch gesprochen. Kommt ein solches Kind direkt in die Schule, ohne eine vorschulische Einrichtung besucht zu haben, fehlen ihm wichtige Voraussetzungen, um erfolgreich am Unterricht teilzunehmen. Es kann zwar durch besonderen Unterricht in der deutschen Sprache gefördert werden, aber das ist bereits bei Schulkindern sehr mühsam, während das Kleinkind in kürzester Zeit die Sprache der Einheimischen beherrscht.

Bislang scheiterte der größere Teil der nichtdeutschen Schüler an mangelnden Deutschkenntnissen. Man fasst sie deswegen häufig in eigenen nationalen Klassen mit Gettocharakter zusammen. Nur ein gutes Drittel erreicht den Hauptschulabschluss. In Realschulen und Gymnasien sind sie völlig unterrepräsentiert. Was dies für Hunderttausende von Kindern und Jugendlichen auf die Zukunft hin bedeutet, auch auf die Zukunft unserer Gesellschaft hin, beginnen sich die Verantwortlichen langsam auszumalen. Sie bekommen es sogar mit der Angst zu tun. So hat sich ein bedenklicher Sprachgebrauch eingeschlichen: von „sozialem Zündstoff", vom „Zeitzünder aus Anatolien", von „einer sozialen Zeitbombe", vom Explosionsstoff der Zukunft" ist die Rede. Damit sind nicht die Granatenfunde von Hamburg oder befürchtete Terrorakte gemeint, sondern die Kinder der ausländischen Arbeitnehmer.

Niemand kann bestreiten, dass die nicht gelungene Integration unzähliger Kinder und Jugendlicher für unsere Gesellschaft größte Probleme aufwirft. Aber deswegen darf das Verursacherprinzip nicht auf den Kopf gestellt werden, als wären diese Kinder, und nicht unsere Gesellschaft in erster Linie für die sozialen Defizite verantwortlich. Der Sprachgebrauch, der Kinder mit Bomben, Zeitzündern und Sprengstoffen in Verbindung bringt, müsste öffentlich geächtet werden. Die wirkliche Gefahr besteht nämlich darin, dass durch eine solche Redeweise eine nicht integrierte Gruppe in unserer Gesellschaft auf Dauer isoliert wird, dass geheime und offene eine Ausländerfeindlichkeit sich bestätigt fühlt und die Kräfte, die immer noch auf eine Verbesserung der Situation hinarbeiten, gelähmt werten könnten.

Es ist unerlässlich, dass unsere Gesellschaft und die deutsche Bevölkerung ein positives Verhältnis zu den Jugendlichen anderer Muttersprache bekommt. Tatsächlich ist gerade im Jahre des Kindes eine entscheidende Umstimmung im Gange. Sie gründet sich auf der Erkenntnis, dass die Bundesrepublik vornehmlich für diese Generation zu einem Einwanderungsland geworden ist, dass der rapide Geburtenrückgang bei der deutschen Bevölkerung die Frage nach der Notwendigkeit künftiger Einwanderung stellt, und dass sich für das nächste Jahrzehnt ein Bedarf an gut ausgebildeten Menschen in unserer Wirtschaft abzeichnet, der durch die wieder schwächer werdenden deutschen Geburtenjahrgänge nicht mehr abgedeckt werden kann.