Herbert Leuninger ARCHIV MIGRATION
1980

Der Kindergarten - eine multikulturelle Gesellschaft en miniature



   

Dem Kindergarten fällt eine besondere Rolle zu, nämlich der klassische Ort zu sein, wo die Verhaltensweisen einer neuartigen Gesellschaft (einer multiethnisch zusammengesetzten) erlernt werden.

"Die Bundesrepublik ist eine multikulturelle Gesellschaft", heißt eine herausfordernde These zum diesjährigen TAG DES AUSLÄNDISCHEN MITBÜRGERS. Wer das nicht glaubt, besuche einmal unsere Kindergärten! Dort trifft er Kinder aus aller Herren Länder an. Meistens sind die deutschen Kinder noch in der Mehrzahl. In vielen Fällen sind sie aber bereits eine Minderheit unter kleinen Türken, Spaniern, Griechen, Jugoslawen, Asiaten, Italienern und Portugiesen. Damit ist der Kindergarten ein Spiegelbild unserer Gesellschaft, wie sie ist, oder wie sie einmal sein wird. Niemand kann sich im Augenblick so richtig vorstellen, was das für die Zukunft unseres Landes und unserer Städte bedeutet. Ängste kommen hoch. Bei Deutschen ist es die Furcht, von ihrer Lebensart Abstriche machen zu müssen, vielleicht eines Tages völlig überfremdet zu werden. Menschen, die aus anderen Ländern zu uns gekommen sind und mit ihren Familien hier leben, kennen die Sorge, sie und ihre Kinder könnten völlig eingedeutscht oder germanisiert werden. Die eigene Sprache, Kultur und Religion gingen verloren und damit würden sie sich selbst verlieren. Es wäre falsch, die beiderseitigen Ängste zu verkennen. Sie beeinflussen das gegenseitige Verhältnis und stören das, was man als Integration bezeichnen möchte. .

Wenn nicht alles trügt, fällt angesichts dieser ungeklärten Lage dem Kindergarten eine besondere, wenn nicht gar einmalige Rolle zu, nämlich der klassische Ort zu sein, wo die Verhaltensweisen einer neuartigen Gesellschaft (einer multiethnisch zusammengesetzten) erlernt werden. Auch hierfür gibt es noch kein Rezept, wir können auch keines haben. Den Eltern und Erziehern, den Erwachsenen fehlen die notwendigen Erfahrungen und Lernmöglichkeiten. Dennoch müßten sie noch einiges hinzu lernen, damit ein möglichst tolerantes und konfliktfreies Leben zwischen Menschen deutscher und nichtdeutscher Herkunft in unseren Gemeinden und Städten möglich wird. Die Fähigkeit zu lernen nimmt aber bekanntlich mit dem Alter ab. Verhaltensweisen zu ändern, die in der Kindheit eingeprägt wurden, ist bereits jungen Menschen nur schwer möglich. Die große Hoffnung für die künftige multikulturelle Gesellschaft sind die Kinder im Kindergarten! Sie lernen spielend und beispielhaft miteinander umzugehen.

Der Kindergarten hat in den beiden letzten Jahrzehnten einen hohen Stellenwert für die Integration des Kindes in unsere Gesellschaft erhalten; wobei Integration nicht ein Begriff ist, der nur auf Ausländer angewendet wird. Er ist dabei, diese Stellung noch auszubauen, indem er sich immer mehr als Ort versteht, in dem die verschiedenen Generationen miteinander lernen. Das traditionelle Lehr- und Lernverhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern verändert sich. Die Eltern und Erzieher werden Mitlernende. In einer situationsbezogenen Kindergartenarbeit geht es um einen Lernprozeß, in dem die Kinder gleichberechtigt sind, ihre Erfahrungen machen, die nicht die Erfahrungen ihrer Pädagogen sind und sein können. Die Kinder werden in gewissem Sinn die Lehrer ihrer Erzieher.

Dies ist für eine neuartige multikulturelle Gesellschaft von ausschlaggebendem Belang, zumal wir uns wohl auf ein neues Verhältnis der Generationen zueinander einstellen müssen. Die amerikanische Völkerkundlerin Margaret Mead hat bereits vor zehn Jahren geschrieben, es gäbe auf der ganzen Welt keine Älteren, die wüßten, was die Kinder wissen. Daher forderte Frau Mead die Herstellung einer Kommunikation neuer Art mit jenen, deren Existenz am weitesten in die Zukunft vorausgreife. Die Bewältigung der Zukunft hänge davon ab, ob es gelinge, diejenigen an Entscheidungen zu beteiligen, die als Kinder normalerweise noch keinen Zugang zur Macht hätten und von denen die Machthabenden im Grund kein klares Bild besäßen. Es müsse ein kontinuierlicher Dialog entstehen, in dessen Verlauf die jungen Menschen Eigeninitiativen entfalteten, um den Älteren den Weg in die unbekannte Zukunft weisen zu können.

Nach Mead kann man den heutigen Menschen ein nicht unbekanntes Verhaltensschema anbieten. Sie sollten sich gleichermaßen als Einwanderer in das neue Zeitalter verstehen, ohne zu wissen, welche Anforderungen die neuen Lebensumstände mit sich bringen würden. So empfiehlt sie die Übernahme des Pioniermodells. Vorbild wären danach Einwanderer der ersten Generation, die als Pioniere in ein unerforschtes Land kommen. Vielleicht sollte man das Modell dahingehend abwandeln, daß nicht die erste Generation, sondern die zweite als maßgeblich angenommen wird. Die Kinder der Einwanderer hätten nämlich ihren Eltern voraus, daß sie dem Neuen, was sie erwartet, weniger voreingenommen gegenübertreten. Auch fehlen ihnen die festen Prägungen der Heimat ihrer Eltern. Sie müssen sich viel anpassungsfähiger zurechtfinden. Lassen wir uns auf diese Anregung ein, wären wir alle im gewissen Sinne "Einwanderer", Einwanderer in eine neue Zeit und Gesellschaft, die nicht mehr nur national geprägt wäre. Dabei wissen wir nicht, wie sich das Neue, das auf uns zukommt, ausnehmen wird. Wir könnten uns aber orientieren, und zwar an den Kindern, die mit einer Selbstverständlichkeit ohnegleichen die unerwartete Lage erkennen und beherrschen. Sie würden uns den Weg weisen, die Möglichkeiten sehen, die notwendigen Tests und Prüfungen für uns und mit uns bestehen. Wir müßten die Rahmenbedingungen setzen, daß die Kleinen nicht an ihren begrenzten! Kräften scheitern, daß sie den Raum erhalten, um spontan zu reagieren und zu probieren.

Einige Umrisse der neuen Gesellschaft können sicher bereits vage umschrieben werden. Es muß in dieser Gesellschaft sehr tolerant und pluralistisch zugehen. Das Recht auf eigene, gruppenbedingte Identität, auf Anderssein würde anerkannt, ohne daß allzu große Unruhe bei der eigenen Gruppe entsteht. Veränderungsbereitschaft wäre eine Form gemeinsamen Überlebens. Trotz aller Verschiedenheit müßte das Gemeinsame des Humanen und der Interessen wichtiger sein als alle Verschiedenheit. Noch stehen wir ganz am Anfang, wir befinden uns sogar in einer Krise. Das Bisherige, das Nationale, die Konzentration auf das Eigene in Kultur und Religion fördern die Trennung. Die ganz große Gefahr besteht darin, daß wir uns auf das Experiment einer multikulturellen Gemeinschaft überhaupt nicht einlassen. Wir gehen uns aus dem Weg. Jeder strebt in sein Getto und hält den anderen draußen, kapseit sich ab und betrachtet den anderen nicht nur als fremd, sondern sogar als feindlich, die eigene Identität bedrohend.

Gut deutsch: Gebt den Ausländern ihre eigenen Kindergärten und Klassen! Sie können dort ihre spezifische Kultur pflegen, das wollen sie ja wohl auch selbst. Haben wir das Recht, ihnen das zu nehmen? Wenn die Kinder im Kindergarten nicht mehr zusammen sind, werden sie auch nicht lernen, zusammen zu leben. Und wenn die Kinder nicht mehr lernen, zusammen zu leben, dann werden es ihre Eltern und Erzieher, dann wird es die Erwachsenengesellschaft erst recht nicht lernen. Uns kann's vielleicht gleich sein, den nachfolgenden Generationen aber nicht!.

veröffentlicht in: CARITAS in Nordrhein-Westfalen, Nr. 5/80, S307-309