Herbert Leuninger

ARCHIV MIGRATION
1983

WIR BRAUCHEN NACHBARN


INHALT
Die Würde des Menschen wird bereits dann beeinträchtigt, wenn ich Menschen nach ihrem Gebrauchswert einschätze und davon spreche, daß sie überzählig oder es zu viele seien., daß ihre Zahl reduziert werden müsse.

"Ali, komm bald wieder!", wehmütig klingt der Abschiedsgruß. Er ist vielleicht ernst gemeint, in Wirklichkeit wird er aber nur gespielt. Das traurige "Auf Wiedersehen!“ stammt aus einem ZDF-Beitrag, einem Science-fiction-Film. In ihm treten hilflose Deutsche auf, die von allen guten Geistern , den „Gastarbeitern" nämlich, verlassen sind. Diese sind, in der kühnen Vorstellung des Filmemachers, samt und sonders in ihre Heimat zurückgekehrt. Im Ruhrgebiet gehen die Hochöfen aus, die Förderbänder in den großen Automobilfabriken stehen still, schmutzige Wäsche und nicht gespültes Geschirr stapeln sich in den Krankenhäusern. Der Müll, ja vor allem der Müll, wird nicht mehr abgefahren.

Drastisch führt der Film vor Augen, wohin die "Ausländer raus"-Parole führt, wenn sie konsequent umgesetzt wird. Das Schauergemälde gibt es mittlerweile in verschiedenen Varianten. Makabrer Höhepunkt: Sogar Särge stapeln sich, die Toten kommen nicht mehr unter die Erde, weil die "Gastarbeiter" die Bundesrepublik verlassen haben.

Die Horror-Vision soll denen die Augen öffnen, die meinen, die Deutschen hätten es in der Krise besser, wenn die Nicht-Deutschen gingen. Dem wird entgegengehalten: Wir brauchen die "Gastarbeiter!“ Aber welcher vernünftige Mensch in der Bundesrepublik bestreitet dies denn ? Natürlich brauchen wir die Gastarbeiter, in vielen Bereichen unserer Wirtschaft sind sie unersetzlich.-

Wir brauchen die "Gastarbeiter", ein eingängiger und durchaus verständlicher Satz. Er ist nahezu in aller Munde. Auch jene verwenden ihn gern, die sich öffentlich für die nichtdeutschen Arbeitnehmer einsetzen und sie vor fremdenfeindlichen Angriff schützen wollen. So gesehen soll das Sätzchen überzeugen und eine fremdenfreundliche Haltung bewirken. Wer aber generell etwas gegen "Ausländer" hat, wird sich überhaupt nicht von Argumenten, auch nicht von solchen, überzeugen lassen. Vielleicht bestärken sie ihn sogar in der ablehnenden Haltung, indem er ergänzt: Ja, aber dann nicht so viele. Das ist konsequent, vielleicht versteht, wer so spricht, das Argument, wir brauchen die "Gastarbeiter" besser als die, die ihn gut gemeint verwenden. Denn, was heißt das denn wirklich: Wir brauchen die "Gastarbeiter" ?

Es heißt: Wir brauchen Menschen, wir, die Deutschen, brauchen Menschen aus anderen Ländern für uns, für unsere Wirtschaft. Wir haben Menschen gesucht und geholt, die bei uns für uns arbeiten. Das ist ein ganz normaler, auch in anderen Ländern üblicher Vorgang. Die Vorteile sind nicht einseitig, wenn diese Menschen zuhause keine Arbeit oder zu wenig Arbeit und Verdienst hatten. Wir konnten ihnen beides bieten und haben dies auch über Jahrzehnte getan. Wir brauchten Menschen, suchten uns die geeigneten aus und holten sie in unser Land. Niemand hat sich dagegen gewehrt , kaum jemand darin ein grundsätzliches oder gar gegen die Humanität verstoßendes Problem gesehen.

Aber vielleicht ist es ein solches und es wird erst jetzt, in schwierigeren Zeiten deutlich. Wir brauchen Menschen ! Und wenn wir sie nicht mehr brauchen ? Dann sagen die "Groben": "Ausländer raus! :" Und die "Feinen": "Wir müssen die Rückkehr fördern !" Beides läuft im Grunde auf dasselbe hinaus. Wiederum ein Ausleseprozess, bei dem die, die wir weiterhin brauchen, hierbleiben dürfen, während die anderen gehen sollen. Gegen die "Groben" gehen wir natürlich an. Sie verletzen mit ihrer feindseligen Art unser humanes Gefühl. Und die "Feinen" ? Die bekommen recht, sie haben recht. Daß die "Gastarbeiter" wieder gehen, wenn wir sie nicht mehr brauchen, war von Anfang an die Geschäftsgrundlage der Anwerbung. Dies betonen die "Feinen". Das war und ist doch nicht unmoralisch! Schließlich handelt die Bundesrepublik nicht anders als jeder Betrieb. Menschen werden eingestellt, wenn sie gebraucht werden und sie werden wieder entlassen, sobald sie nicht mehr gebraucht werden. Nach diesem einfachen Grundsatz funktioniert unser- Arbeitsmarkt, nach diesem Prinzip funktioniert auch der Arbeitsmarkt für Ausländer.

Weil dies ein ehernes Prinzip unserer Gesellschaft ist, an dem nicht gerüttelt werden darf, halten wir es nicht nur für selbstverständlich, daß nichtgebrauchte "Gastarbeiter" wieder gehen müssen, sondern wir finden uns auch in einem erstaunlichen Maße damit ab, daß Millionen Menschen - Deutsche wie Nichtdeutsche - arbeitslos werden. Eins hängt mit dem anderen zusammen.

Wer sich daran gewöhnt hat, daß wir Menschen nach Bedarf kommen und gehen lassen, daß wir "Arbeitskräfte" importieren und Arbeitslosigkeit exportieren, verfügt kaum noch über ein wirkungsvolles, moralisches Argument gegen die Arbeitslosigkeit. Kein arbeitslos gewordener Deutscher darf sich über sein Schicksal wundern, wenn er die Behandlung seiner nichtdeutschen Kollegen akzeptiert hat. Ihm widerfährt das Gleiche, nur mit einem nicht unwichtigen Unterschied, er ist in seiner Existenz abgesicherter, weil er nicht aus der Bundesrepublik weggeschickt werden kann. Aber als überzählige und überflüssige Belastung, als jemand, der nicht mehr gebraucht wird, gilt auch er.

Die Anfrage, wie auch in Krisenzeiten die Würde des Menschen, aller Menschen gewährt wird, geht nicht in erster Linie an den Betrieb oder den einzelnen Arbeitgeber. Was soll er machen, wenn er keine Aufträge mehr hat, wenn die Banken den Kredit verweigern und der Bankrott bevorsteht? Die Anfrage geht an die Gesellschaft und die Politik, ja an die Moral als Grundlage einer humanen Gesellschaft. Welche moralische, nicht einmal wirtschaftliche Kraft kann diese Gesellschaft mobilisieren, um zu verhindern, daß sich Menschen vielleicht auf Dauer als überflüssige "Arbeitskräfte"' vorkommen müssen? Die Würde des Menschen wird bereits dann beeinträchtigt, wenn ich Menschen nach ihrem Gebrauchswert einschätze und davon spreche, daß sie überzählig oder es zu viele seien., daß ihre Zahl reduziert werden müsse. Deswegen kann ein Satz: Wir brauchen die "Gastarbeiter“ kein humaner Satz sein; denn wenn wir sie nicht brauchen, kündigen wir einfach die Solidarität mit ihnen auf, aber eben nicht nur mit ihnen, sondern auch mit allen anderen, die wir nicht mehr brauchen.

Solidarität bedeutet, daß Menschen in Not und Krise zusammenstehen, weil sie von der- gleichen Würde und den gleichen Grundrechten aller Menschen ausgehen. Solidarität der Menschen, die zusammen wohnen, arbeiten und leben, gleich welcher Nationalität, das ist Nachbarschaft, die alle brauchen.

Artikel für
KNA - Bild
(Katholische Nachrichtenagentur)
zur Woche der ausländischen Mitbürger 1983