Herbert Leuninger

ARCHIV MIGRATION
1986

Gegen Neonazismus, Rassismus und Ausländerfeindlichkeit

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"Wir stehen hier, um unseren Willen auszudrücken, keine Entwicklung zuzulassen, die nur im entferntesten an 1933 anknüpft. Allerdings gehört es dazu, sich einzugestehen, daß 1933 nicht schon Geschichte ist... und daß alle Bemühungen, diese Geschichte abzuschütteln, bereits ein Schritt in die Wiederholung dieser Geschichte ist."

Als ich im vergangenen September zwei eritreische Freunde zur S-Bahn begleitete, machte mich einer der beiden auf eine ausländerfeindliche Parole in der Unterführung aufmerksam. Ich hatte sie nicht bemerkt. Er wohl! Er war betroffen. Ich dann auch. Noch in der Nacht überklebten Mitglieder unseres „Solidaritätskreises Asyl" diese Parole mit dem Plakat zur Woche der ausländischen Mitbürger: Nachbarschaft, die Frieden schafft. Am nächsten Morgen war das Plakat abgerissen. Und wir entdeckten auf einmal überall diese ekligen Schmierereien. Hatten wir sie vorher nicht gesehen, oder vermehrten sie sich über Nacht? Wir spürten, daß dem mit Klebe- oder sogar Sprühaktionen nicht beizukommen war. Es war wie ein Krebsgeschwür mit Metastasen. Hofheim war davon befallen. Tief beschämt mußten wir erkennen, daß dieser Krebs weiterfraß, und nicht nur eine Außen- sondern mehr noch eine Innenwirkung hatte. Wir spürten z. B., daß es immer schwieriger wurde, Wohnungen für Flüchtlinge zu finden. Und wenn solche gefunden waren, gab es die größten Probleme mit anderen Hausbewohnern. Der Hausmeister eines großen Wohnkomplexes in Hattersheim tituliert in einem Schreiben an seine Immobilien-Gesellschaft unsere Freunde, eine Mutter mit drei Kindern, als Asylanten aus dem afrikanischen Busch. Der Wohnungsinhaber unter ihnen habe Zweifel, daß er in absehbarer Zeit von seinen, sich wie Affen im Urwald benehmenden Afrikanern befreit werde. Unsere Scham wächst. Schließlich zeigt mir ein anderer Flüchtling, als wir spät abends durch Diedenbergen ins Wohnheim fahren, die Hetzparolen an der evangelischen Kirche.

Dann lese ich die Flugblätter, die am hellichten Tag in Hofheim verteilt werden konnten. Ich kenne die Sprache, ich kenne sie seit Jahren. Es ist nicht die Sprache junger Extremisten, sie drücken sich in Latrinenparolen aus. Es ist die Sprache biederer Bürger der Bundesrepublik, es ist die Sprache von Wissenschaftlern und Publizisten.

Ich erinnere an die Auseinandersetzung um das rechtsextreme Heidelberger Manifest, das von 15 Professoren unterzeichnet war. Ich erinnere an die Auseinandersetzungen an der Universität Bochum mit dem maßgeblichen Unterzeichner dieses Manifestes, Prof. Schmidt-Kaler. Die unversöhnlichste Diskussion in meiner Tätigkeit habe ich mit ihm noch vor dem Erscheinen des Manifestes in Berlin geführt. Ich erinnere an die Resolution von 138 Wissenschaftlern der Universität Osnabrück gegen Prof. Robert Hepp vom Juni vergangenen Jahres. Unter dem reißerischen Titel: „Das deutsche Volk in der Todesspirale" ziehe Hepp ebenso gegen die „Unterfruchtigkeit" der deutschen Ehen und die mangelnden „Fortpflanzungsleistungen" deutscher Mütter zu Felde wie gegen die „Überschwemmung" und „Unterwanderung" der Bundesrepublik durch Ausländer, die sich die Deutschen bieten ließen, ohne auf zu mucken. Die Resolution erwähnt den Rundumschlag Hepp’s gegen „unfruchtbare Emanzen", „katholische Bischöfe in der Pose Nathans des Weisen" und „Staatsanwälte, die biedere Deutsche verfolgen". Nach einer kürzlichen Diskussion um die Thesen von Hepp (Vechta), zu der ich von der „Gruppe der 138" eingeladen war, habe ich am nächsten Tag auch das stille Örtchen der Uni Osnabrück aufgesucht und mußte dort an allen Wänden SS-Runen und Hakenkreuze feststellen. Das ist die Gemeinsamkeit von Lehre und Latrine!

Die Osnabrücker Professoren reihen ihren Kollegen unter die Vertreter des Sozialbiologismus ein. Es geht beim Sozialbiologismus um Theorien, die nachgewiesen haben wollen, daß gesellschaftliche Probleme, wie Krieg, Fremdenhaß, Rassismus, Völkermord und die Unterdrückung der Frau ihre Wurzeln nicht im gesellschaftlichen Versagen, sondern in unserer biologischen Natur hätten.

Es ist hier kaum bekannt, daß sich in den USA solche Theorien schon seit Jahren einer wohlwollenden Publizität in der Fachliteratur, in Lehrbüchern und in angesehenen Magazinen erfreuen. Als unumstößliche, wissenschaftliche Wahrheit hat dieser Sozialdarwinismus die Akademien und Schulen erreicht, so daß die Gefahr besteht, daß eine ganze Generation junger Menschen daraufhin erzogen wird, den Sozialdarwinismus als wissenschaftlich erwiesen anzusehen. Auch hier spielen die USA eine Vorreiterrolle. In der Bundesrepublik setzen sich diese Ideen auch wieder durch, die Ideengemeinschaft ist groß, oder täusche ich mich?

Ich verweise nur auf den jüngsten Bericht des Untersuchungsausschusses des Europäischen Parlamentes zum Wiederaufleben des Faschismus und Rassismus in Europa: Dort wird ein angeblich „wissenschaftlicher" Rassismus erwähnt, der auf der Grundlage von Pauschalurteilen und einfacher Mythen eine Rechtfertigung der Rassentrennung finden wolle. Zu den Thesen gehöre die Unabwendbarkeit des Krieges der Rassen, ein radikaler Antisemitismus und eine Verherrlichung der „reinigenden" und „befreienden" Gewalt.

Über die extreme Rechte in der Bundesrepublik heißt es in dem Bericht, sie werte die Wahlerfolge der Nationalen Front in Frankreich als Zeichen einer bevorstehenden Veränderung der politischen Szene in Europa. An einer anderen Stelle spricht der Bericht von einem antidemokratischen Gärungsprozeß der politischen Kultur, dessen Wirkung sich nicht ausschließlich an den Wahlergebnissen - die der Rechten werden als immer kläglicher eingestuft - ablesen lasse.

Die Entwicklung des fremdenfeindlichen Klimas in Europa führt der Bericht auf ein umfassendes soziales Unbehagen und die Angst um die Zukunft zurück. Die Gefahr eines Erfolges radikaler Strömungen sieht der EP-Ausschuß dann gegeben, wenn die demokratischen Parteien im Hinblick auf kurzfristige Erfolge versuchten, mit den Möglichkeiten zu spielen, die jede Veränderung des politischen Gleichgewichts biete. Etwas, was über weite Strecken die Ausländerpolitik und jetzt die Asylpolitik prägt.

Nehmen wir als markantestes und wohl verheerendstes Beispiel hierfür die Äußerungen des Innensenators von Berlin, Heinrich Lummer. Er hat sie kürzlich auf einer Veranstaltung der Evangelischen Kirche in Berlin gemacht: Bei Asylbewerbern sei eine Schmarotzermentalität weit verbreitet. Es fallen die Ausdrücke vom Scheinasylantentum, von der Abschreckung durch Arbeitsverbot oder von der Rauschgiftkriminalität bei Asylbewerbern. Das ist ein Haßsyndrom gefährlichen Ausmaßes. Oder spüren weite Kreise der Bevölkerung schon nicht mehr die unsägliche Menschenverachtung dieser Worte?

Der Wahn sitzt tief, der Krebs wuchert. Die Juden, die unter uns leben, sind tief beunruhigt, die Türken haben Angst, die Flüchtlinge sind schockiert. Sie haben Angst, an der heutigen Demonstration teilzunehmen. Sie befürchten jetzt erst recht, zur Zielscheibe der Aggression zu werden. Sie haben sogar Angst um Leib und Leben. Hamburg ist für sie gegenwärtig. Ob die Verhaftung von fünf Verdächtigen daran etwas ändert?

Wir müssen in aller uns zu Gebote stehenden Schärfe das verurteilen, was unter uns geschieht, wissend, daß es keine Monster sind, die diese Untaten verüben, sondern junge Menschen, die unter uns leben, die zu uns gehören, für die wir Verantwortung haben. Was bringt sie dazu, einem Wahn zu verfallen, der Menschen mordet, zum Holocaust geführt hat und zu einem neuen, atomaren Holocaust führen kann? Es ist Selbsthaß. Es ist der Versuch, sich in entsetzlicher Weise vor sich und andern aufzuplustern. Und die Gründe hierfür? Ist es nicht auch, ist es nicht zentral die Angst vor der Sinnlosigkeit, die Angst vor der Zukunft, das Fehlen einer Perspektive für den einzelnen, für Unzählige, für eine ganze Generation? Wann denn hätte eine verantwortliche Generation von Erwachsenen eine junge Generation so im Stich gelassen, wie wir dies tun mit unserer Politik und mit unserer Aufrüstung? Leben wir nicht mit irrsinnigen Feindbildern, die an die Wände unserer Gesellschaft gesprüht sind?

Wir stehen hier vor der ehemaligen Synagoge, weil wir zu unserer Verantwortung stehen. Dies bedeutet, daß wir uns solidarisch an die Seite derer stellen, die aus rassischen, nationalistischen und fremdenfeindlichen Motiven angegriffen werden. Wenn wir dies tun, ziehen wir ein Stück der auf sie gerichteten Aggression auf uns. Das können wir ertragen. Entscheidend ist, daß wir damit selbst Betroffene werden, wenn wir dies nicht bereits sind. Wir stehen hier, damit andere den Mut finden, sich künftig ebenfalls an die Seite der Angegriffenen zu stellen. Wir stehen hier, um unseren Willen auszudrücken, keine Entwicklung zuzulassen, die nur im entferntesten an 1933 anknüpft. Allerdings gehört es dazu, sich einzugestehen, daß 1933 nicht schon Geschichte ist, vielleicht nie Geschichte wird, unsere ewige Geschichte bleibt, und daß alle Bemühungen, diese Geschichte abzuschütteln, bereits ein Schritt in die Wiederholung dieser Geschichte ist.

Shimon Peres hat bei seinem Besuch in der Bundesrepublik das alte Deutschland als eine Gefahr für das neue Deutschland und nicht nur für das jüdische Volk bezeichnet. Die Juden hofften aber, daß das neue Deutschland dem alten nicht gestattet werde, in Symbolen oder Taten wiederzukehren. „Dafür sind die Deutschen selbst verantwortlich". Ja! Wir bekennen uns heute demonstrativ zu dieser Verantwortung!


Ansprache von Herbert Leuninger als Asylpfarrer im Main-Taunus-Kreis und Mitglied der Pax-Christi-Gruppe Solidaritäts-Kreis Asyl in Hofheim auf der Abschlußkundgebung der Arbeitsgemeinschaft „Nie wieder 1933" im Main-Taunus-Kreis am Samstag, den 1. Februar 1986
veröffentlicht in: Pax Christi, internationale katholische friedensbewegung, März/April 1986, S. 11-13