Herbert Leuninger

ARCHIV MIGRATION
1997

18. Mai 1997
DER SONNTAG
Kirchenzeitung für das Bistum Limburg

Überalterung
ist das größte Problem Deutschlands
Interview
mit "Flüchtlingspfarrer" Herbert Leuninger (Hofheim)

Pfarrer Herbert Leuninger (Hofheim) war viele Jahre Sprecher von "Pro Asyl". Seit 1994 ist er Europabeauftragter der bundesweiten Initiative und Mitglied des Europäischen Flüchtlingsrates.

DER SONNTAG: Vor allem von Politikern der CDU/CSU wird als Argument gegen Einwanderungsregelungen die hohe Arheitslosigkeit angeführt. Was halten Sie von dieser Position?

HERHERT LEUNINGER: Das Argument, zu uns geflüchtete und eingewanderte Menschen könnten freigewordene Arbeitsplätze in weitem Umfang ühernehmen, bedarf einer Revision. Die Schaffung von Arbeitsplätzen für alle, die in Deutschland und Westeuropa lehen, muß höchsten Stellenwert haben. Diese gesellschaftspolitische Aufgabe wird nicht dadurch gelöst, daß Deutsche und Menschen anderer nationaler Herkunft gegeneinander ausgespielt werden.

Der von Wissenschaftlern bis weit ins nächste Jahrhundert prognostizierte Rückgang der deutschen Bevölkerung kann durch den Zuzug von außen kompensiert werden. Warum nimmt die Politik diese Fragen nicht genügend wahr?

LEUNINGER: Die Verdrängung von Wirklichkeit oder die Unfähigkeit, der Wahlbevölkerung klaren Wein einzuschenken, ist Teil der Politik. Für mich ist die Überalterung der hiesigen Wahlbevölkerung das größte Problem des "Standortes Deutschland". Eine überalterte Bevölkerung ist nämlich nicht in der Lage und flexibel genug, sich auf neue Erfordernisse einzulassen, vor allem nicht darauf, allen Menschen in der Welt Gerechtigkeit widerfahren lassen zu wollen.

Anfang der 80erJahre gab es in Deutschland insgesamt etwa vier Millionen "Ausländer", heute sind es über sieben Millionen. Mehr als die Hälfte von ihnen lebt bereits länger als zehn Jahre in Deutschland. Die Kinder der hier beheimateten "Ausländer" erhalten nicht automatisch den deutschen Paß. Ist es nicht höchste Zeit, das Staatsangehörigkeitsrecht von 1913 zu ändern?

LEUNINGER: Ein seit Jahrzehnten fehlendes Niederlassungsrecht hat zum Nachteil für die eingeWanderten Bevölkerung und zum Nachteil unserer Republik verhindert, daß sich Deutschland der ganzen und notwendigen Kraft und Phantasie einer jungen Bevölkerung versichert hat.

Wie kann es gelingen, die Bevölkerung mehr für drängende Fragen weltweiter Migration, der Eingliederung und des Umgangs mit "Fremden" unter uns zu interessieren und damit Vorurteilen und rücksichtslosem politischem Kalkül erfolgreich zu begegnen?

LEUNINGER: Bedauerlicherweise erliegt die Politik immer wieder der Versuchung, eine Krisenstimmung in der Bevölkerung auf die Fremden zu verlagern. Das ist sehr gefährlich und wird gern als Rechtfertigung für fremdenfeindliche Angriffe verstanden. Ein wirkliches Krisenmanagement muß sich aber auf die weltweiten Fakten beziehen, die für Krieg, Ungerechtigkeit und Verfolgung letztlich verantwortlich sind.

Am deutschen Alleingang und Abschiehepraktiken bei der "Rückführung" bosnischer Flüchtlinge wurde und wird hierzulande zum Teil heftige Kritik geübt. Teilen Sie diese kritischen Anmerkungen?

LEUNINGER: Meine Kolleginnen und Kollegen vom Europäischen Flüchtlingsrat schütteln den Kopf über den Alleingang der Bundesrepuhlik Diese hält sich nicht an die Vorgaben des Daytoner Friedensabkommens, nach denen das Hochkommissariat für Flüchtlinge in Genf den Fahrplan für die Rückkehr der bosnischen Flüchtlinge festzulegen hat. Deutschland riskiert einen internationalen Gesichtsverlust. Dies ist bereits so offensichtlich, daß sich Außenminister Kinkel und Verteidigungsminister Rühe gegen die Abschiebungspolitik ausgesprochen haben.

Interview: Wolfgang Graf Spee