Frankfurter Rundschau vom 15. Oktober 2001 Zehntausende protestieren im Zeichen der Taube Anti-Kriegs-Demonstrationen in Berlin und Stuttgart Von Birgit Loff (Berlin) und Gabriele Renz (Stuttgart) Zehntausende haben am Wochenende in Berlin und Stuttgart gegen die US-Angriffe gegen Afghanistan protestiert - weil Krieg kein Mittel gegen Terrorismus sei. Kürzlich erst hatten Zehntausende Berliner am Brandenburger Tor der Terroropfer von New York und Washington gedacht, am Samstag sammelte sich an diesem Ort die Friedensbewegung. Familien mit Kinderwagen reihten sich ein in den Zug, Menschen jeden Alters mit der weißen Friedenstaube auf blauem Luftballon, Kinder und Erwachsene mit selbstgemalten Tauben. Viele trugen improvisierte Protestschilder wie jene Lehrerin aus Kreuzberg, die gemeinsam mit deutschen auch türkische, palästinensische und Kinder aus dem ehemaligen Jugoslawien unterrichtet. "Auge um Auge macht blind", zitierte sie Mahatma Gandhi. In weißen Kitteln gingen Mediziner von den Internationalen Ärzten für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) durch die Reihen, um Flugblätter zu verteilen: "Ehrliche internationale Zusammenarbeit zur Bekämpfung von Armut, sozialer Ungerechtigkeit, ökologischer Zerstörung und regionalen Kriegen ist ein mühsamer, aber erfolgsversprechender Weg aus der Krise." Sternförmig ging es zur Kundgebung auf dem Gendarmenmarkt. Dort standen wohl bis zu 30 000 Menschen so dicht gedrängt, dass manche über das Ziergitter des Schillerdenkmals geklettert waren und einige oben auf dem Sockel an den Mantelfalten des Dichterfürsten Halt suchten. Wer behaupte, mit Krieg lasse sich Terror stoppen, der "ist entweder blöde oder er lügt", sagte Professor Joseph Weizenbaum von der Rednertribüne. Flankiert war sie von zwei mit schwarzem Stoff bespannten Säulen, die an die Türme des World Trade Center erinnerten. In weißer Schrift stand auf dem linken Turm "Kein", auf dem rechten "Krieg". Eine Rednerin aus Afghanistan beklagte, Waffen und Lager hätten die Taliban längst in die Berge verlegt. Bombardiere man afghanische Städte, treffe man nur jene, die zu schwach seien zu flüchten. Andere Redner nannten es Erpressung, wenn als Gegner betrachtet werde, wer gegen den Krieg in Afghanistan sei. Sie warnten vor dem Abbau bürgerlicher Grundrechte oder vor der Eskalation von Gewalt. Einem NPD-Anhänger gelang es während der von einem großen Polizeiaufgebot geschützten Veranstaltung, am Französischen Dom auf der Nordseite des Platzes ein Transparent zu befestigen. Während die Menge "Abhängen! Abhängen!" brüllte und "Nazis raus!", kletterte ein junger Mann auf den Steinsims in schwindelnder Höhe des Doms, zerriss das Transparent und warf Fetzen auf den Platz. Minuten später erschien ein Polizist, um Reste des Transparents einzurollen. Mehr als 10 000 Menschen - die Veranstalter sprechen von 15 000 - gingen auch in Stuttgart auf die Straße. Mit "We shall overcome" hatte am Morgen der Protest in Form einer Mahnwache vor der Eucom, der Kommandozentrale der US-Army für Europa und Nahost, begonnen. Am Ende wurde die schwäbische Version von "Universal Soldier" von zehntausend Protestierern bejubelt. Eine Mixtur aus Friedensbewegung, Gewerkschaften, Antifa- und Marxismusgruppen, Afghanistan-Exilanten und Kirchen wandte sich da gegen eine "Spirale von Gewalt und Tod". So verteilte die "Föderation der demokratischen Arbeitervereine" Flugblätter "gegen diesen so genannten Krieg gegen Terrorismus, der nichts anderes als ein weiterer grausamer Terrorakt ist". Ein Veteran des Zweiten Weltkriegs zitierte Fidel Castro: "Auf den lang anhaltenden Krieg kündigen wir die lang anhaltende Friedensbewegung von Millionen an." "Mehr als den Terror fürchte ich die Wohlstandsangst der Satten" wurde eilig auf das Leintuch gepinselt. Und immer wieder "Krieg löst keine Probleme". Anhänger der Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands (MLPD) standen neben Kirchen-Vertretern, Punks neben Gewerkschaftsfunktionären und 68ern. Nicht die "Mordaktion" (Attac) vom 11. September, sondern die US-Angriffe auf Afghanistan ließen die Allianz der Friedensbewegten erstarken. Auch viele Grünen-Anhänger und -Mitglieder liefen im Zug mit. "Überflüssig" seien die Grünen als Partei, schalt Jürgen Grässlin, Bundessprecher der Friedensgesellschaften. Sie verkämen zu einem "Mehrheitsbeschaffer für Kriegspolitik". "ver.di sieht sich in der Tradition der Gewerkschaften als Friedensbewegung", rief deren Landesbezirksleiterin Sybille Stamm den Demonstranten zu: "Krieg ist kein geeignetes Mittel der Politik." |