HESSISCHER RUNDFUNK
11.9.1986 - 10.55 h

"Unterwegs in Hessen"
Redaktion: Norbert Schreiber
Interview: Ulrike Holler
mit Herbert Leuninger

 

Thema:
Zelte im Lager Schwalbach

HR
Es handelt sich um Flüchtlinge, die dort in Zelten leben müssen. Inzwischen hungert der Kirchenmann nicht mehr allein, inzwischen sollen auch Asylbewerber diesen ungewöhnlichen Weg gemeinsam mit ihm gehen. Hier sind Informationen von Ulrike Holler

HR
Seit Sonntag, Herr Leuninger, haben Sie nichts mehr gegessen, wie geht es Ihnen ?

Leuninger
Kopf ist klar, Körper ist etwas schwach.

HR
Gibt es eine ärztliche Betreuung ?

Leuninger
Ja ! Ich habe einen Arzt gefunden, der einerseits diese Aktion respektiert, andererseits die Aufgabe übernommen hat, mich gesundheitlich zu betreuen, mir aber Signale zu geben, wenn es nicht mehr geht.

HR
Wie viele Asylbewerber haben sich Ihrem Protest angeschlossen, bzw. wie viele Menschen von außen haben sich Ihrem Hungerstreik angeschlossen?

Leuninger
Von außen her ist eine ungewöhnliche Reaktion zu verzeichnen. In den letzten 3 Tagen sind es ca. 200 Personen gewesen, die aus den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen gekommen sind, um ihre Solidarität zu bekunden und diesen Protest zu unterstreichen.

HR
Es gibt auch Schreiben von SPD-Gruppierungen an den Sozialminister oder an den Ministerpräsidenten. Was steht darin ?

Leuninger
Kurz gesagt die volle Übernahme unserer Forderungen: Den schnellstmöglichen Abbau der Zelte und die Beurteilung, daß diese Zelte ein Zeichen der Abschreckung sind und daß das etwas ist, was eine sozialdemokratische Partei sich natürlich keineswegs leisten kann.

HR
Der Sozialminister hat Sie hier nicht besucht während Ihres Hungerstreiks, aber er hat einen Brief geschrieben. Darin wird der Vorwurf geäußert, auch in den Kirchengemeinden gäbe es Stimmen gegen die Asylbewerber. Dort sollten Sie agieren, nicht aber hier. Die Zelte seien keine Abschreckungspolitik. Sie hatten eben gesagt, dies ist eine Abschreckungspolitik. Der Sozialminister sagt außerdem, Sie würden Wasser auf die Mühlen jener schütten, die gegen Asylanten wären, also Sie würden die Stammtischgespräche beflügeln. Wie stehen Sie zu solchen Vorwürfen ?

Leuninger
Das letzte Argument kann ich überhaupt nicht verstehen. Das ist eine Verkehrung der Verantwortlichkeit. Ich mache den Minister verantwortlich als Vertreter der Landesregierung, daß solche Maßnahmen ergriffen werden, die der Bevölkerung signalisieren, "Das Boot ist voll, wir wollen keine mehr; wir können keine mehr aufnehmen". Das ist das Verheerende, nicht daß ich dagegen agiere. Er ist schon absurd!
Was die Kirchengemeinden angeht: Da weiß ich nur zu gut, daß die Kirchengemeinden mehrheitlich u.U. die Auffassungen teilen, die politisch werden von CDU- und CSU-Politikern vertreten werden. Damit besteht für uns durchaus die Aufgabe, stärker in die Meinungsbildung einzugreifen. Hier danke ich besonders meinem Bischof ganz ausdrücklich für sein Engagement, das er in den letzten Wochen entwickelt hat. Ich weiß, daß dies noch nicht das Letzte ist, was er tun wird.

HR
Der Pressesprecher von Armin Clauss, - er selbst war seit Montag nicht zu einem Interview zu erreichen - sagte, die Kirchen sollten Gemeinderäume zur Verfügung stellen, sie sollten die Kirchen öffnen und sollten damit ein Signal setzen. Dann könnten ja die Zelte abgerissen werden.

Leuninger
Das halte ich für ein Scheinargument. Es ist das Argument konservativer bis reaktionärer Politiker, die damit von den Aufgaben des Staates abzulenken versuchen. Die Kirchen sind natürlich gefragt, wenn es tatsächlich Katastrophensituationen gibt, ihre Kirchen zu öffnen. Ich denke, das werden die Kirchen auch tun. Aber Kirchen sind nicht dazu da, dem Staat zu halfen, seine unmittelbaren Aufgaben zu erfüllen. Hier fehl t es an der politischen Vorsorge. Das ist die tiefe Kritik, die wir an den Zelten üben.

HR
Man muß wissen, daß im Lager Schwalbach 150 Plätze wegfielen, weil in diese Räume Verwaltungsbeamte oder überhaupt Verwaltungen einquartiert wurden, und daß Staatsbeamte den Auftrag haben, schon seit einigen Monaten Notunterkünfte einzurichten. Diese reagieren behördlich und langsam, so daß die neuen Einrichtungen wahrscheinlich erst im Frühjahr nächsten Jahres da sein werden. Von daher muß ich Sie jetzt fragen, Herr Leuninger, hat Ihr Protest jetzt schon Wirkung gehabt? Sind noch genauso viele Menschen in dem Zelt - es ist ja nachts schon relativ kalt - wie anfangs der Woche?

Leuninger
Die Zelte sind warm. Das ist nicht das erste Problem. Aber ich stelle fest, daß in dem Zelt, in dem ich seit Sonntag nächtige, heute nacht z.B. nur noch zwei Flüchtlinge geschlafen haben. Ich habe den Eindruck, daß Bemühungen im Gange sind, die Belegung der Zelte zu verringern. Das halte ich bereits für ein wichtiges politisches Zeichen.

HR
Haben Sie ansonsten erfahren können, ob außerhalb des Lagere Wohnungen zur Verfügung gestellt werden, kleinere Einheiten für Flüchtlinge ?

Leuninger
Ich weiß aus dem Sozialministerium, das ist auch in der Öffentlichkeit bekannt, wenigstens hier in der Region, daß sehr viele Möglichkeiten angeboten wurden, auch von der katholischen und evangelischen Kirche, die aus den verschiedenen Gründen dem Sozialministerium nicht zusagten, so daß diese Zeltkatastrophe eigentlich nur so zu erklären ist, daß man nicht vorher schon an unkonventionelle Möglichkeiten gedacht hat. Das ist ein weiterer ernster Punkt der Kritik.

HR
Der Konflikt ist noch nicht ausgestanden. Wir müssen abwarten, wie es ausgeht, wie beide Seiten ihr Gesicht wahren können. Ich gebe zurück.

Aktion gegen Zelte