Foto. Horst Leder


Der Hessische Ministerpräsident
Hans Eichel

Grußwort
Z
ur Entscheidung, den Walter Dirks-Preis 1998 an die beiden hessischen Bürger, die Brüder Herbert und Ernst Leuninger zu verleihen, kann ich der Jury nur gratulieren. Ich bin als Hessischer Ministerpräsident dankbar dafür, daß die beiden Leuningers hier bei uns in Hessen zu Hause sind.

 

 

Und ich bin dankbar für die Initiative hessischer Bürgerinnen und Bürger, an demokratisches Engagement aus christlicher Überzeugung zu erinnern und es auszuzeichnen. Solange es unter uns Menschen wie Sie gibt, sehr verehrter Ernst und Herbert Leuninger, sehr geehrter Pfarrer Nieten, liebe Mitglieder der St. Gallus-Gemeinde - solange ist mir um die Demokratie in unserem Lande nicht bange.
an Ernst und Herbert Leuninger

Grußwort
Ministerpräsident Hans Eichel

Zuallererst gilt es, Dank zu sagen - im Namen der Bürgerinnen und Bürger dieses Landes und im Namen der Landesregierung. Dank einer Bürgerinitiative der besonderen Art, Dank für die Erinnerung an einen großen Demokraten, einen engagierten Christen und einen Streiter für soziale Gerechtigkeit, an Walter Dirks. Ich habe erfahren, daß Walter Dirks viele Jahre vor seinem Tod Ihnen, sehr geehrter Herr Pfarrer Nieten, Ihrem Plan, die Erinnerung an sein Lebenswerk wachzuhalten, zugestimmt hat. Wo wäre diese Erinnerung besser aufgehoben als hier im Frankfurter Gallus - hier, wo sehr viele Menschen noch den Pfennig umdrehen müssen, wo Frankfurt eben nicht die blank geputzte, reiche Metropole ist - hier, wo die Menschen im täglichen multikulturellen Miteinander neu erproben und ganz konkret beweisen, was das heißt: Weltoffenheit, Toleranz, gelebtes Christentum. Übrigens unter schwierigen Bedingungen. Hier in der St. Gallus Gemeinde haben Menschen aus der ganzen Welt eine gemeinsame geistige Heimat gefunden. Hier würde ich, würde - so denke ich - Walter Dirks sich zu Hause fühlen.

Marianne und Walter Dirks waren bekennende Katholiken, engagierte Streiter für Menschenrechte, kämpferische Verfechter des Sozialstaates zugleich - alles heute - soll ich sagen: leider? - sehr aktuelle Eigenschaften.

Und sie waren bereit, für ihre Überzeugung einzustehen, auch wenn ihnen der Wind ins Gesicht blies. Die Rhein-Mainische Volkszeitung, in der Walter Dirks als Feuilleton-Redakteur zehn Jahre lang die Weimarer Republik vergeblich gegen die Reaktion verteidigt hatte, wurde 1934 von den Nazis verboten.

Das Land Hessen hat Walter Dirks für sein Engagement für die Demokratie 1976 mit der Wilhelm-Leuschner-Medaille gedankt. Junge Christinnen und Christen, Studenten aus St. Georgen, junge Frankfurter Priester aus ihrem Leserkreis gingen in den Widerstand. Das ist hier in Frankfurt ja spätestens seit Ende 1991, seit der Verleihung der nach der tapferen Frankfurter Sozialdemokratin benannten Johanna Kirchner-Medaille an die überlebenden Frauen und Männer des Widerstandes bekannt. Diese Erinnerung kam für Walter Dirks leider zu spät. Um so wichtiger ist die Erinnerung durch die Vergabe des Walter Dirks-Preises der St. Gallus-Gemeinde.

Der Name Walter Dirks steht für eine Tradition, die ihre Wurzeln nicht nur im kirchlichen Raum hat. Von diesen, den christlichen, den katholischen Wurzeln, ist heute aus berufenerem Munde die Rede. 1998, im Jahr der 150. Wiederkehr der demokratischen Revolution in Europa, in Deutschland, hier bei uns in Hessen, möchte ich an die Wurzeln der Demokratie-Bewegung vor 150 Jahren erinnern. Abgeordneter Schütz aus Mainz hielt 1848 nicht weit von hier, in der Paulskirche, eine Rede, aus der ich eine kurze Passage zitieren möchte: "Das heilige Recht auf Arbeit ist vielfach verleumdet, vielfach angegriffen worden.

Was ich in dem Recht auf Arbeit finde, das ist der Beginn einer neuen Epoche, die Möglichkeit, daß der Staat, der früher Militärstaat, Priesterstaat oder bloß königlicher Staat war, der nun bloß Geldstaat ist, daß die menschliche Gesellschaft endlich werde, was sie sein soll: eine Gesellschaft von Arbeitern, eine Gesellschaft, welche jedem Menschen die Möglichkeit eröffnet, durch Anwendung seiner geistigen und physischen Fähigkeiten den seiner Tätigkeit gebührenden Gewinn zu finden!'

Soweit der Abgeordnete Schütz in der Paulskirche.

Heute, in einer Zeit der Massenarbeitslosigkeit - soll ich sagen: wieder der Massenarbeitslosigkeit? Noch ein zukunftsweisender Gedanke. Meinen Sie nicht auch, meine Damen und Herren, liebe Freunde, daß dieser Absatz auch aus einem Rundfunkvortrag von Walter Dirks stammen könnte?

Hier sind wir auch bei schon bei einem der Walter Dirks-Preisträger 1998, bei Ihnen, sehr verehrter Ernst Leuninger. Denn dieser Satz des Paulskirchenabgeordneten Schütz aus Mainz könnte - vielleicht in abgewandelter Form - auch aus einer Ihrer Schriften, aus einer Ihrer Vorlesungen und Vorträge stammen. Soziale Rechte sind Menschenrechte, sind Christenrechte. Ohne Sozialstaat keine Demokratie. Das haben wir alle von Walter Dirks, von Ihrem Lehrer Oswald von Nell-Breuning und auch von Ihnen gelernt, sehr verehrter Ernst Leuninger. Daß die Kluft zwischen Arm und Reich in den letzten Jahren sehr stark gewachsen ist bei uns und überall in der Welt, sehen Sie mit großer Sorge. Gegen die Tendenz, die Armen. dann auch noch zu den Sündenböcken der Gesellschaft zu stempeln, kämpfen Sie mit ebensoviel christlichem Elan wie mit wissenschaftlicher Überzeugungskraft. Nur in enger Zusammenarbeit mit den Organisationen der Arbeitenden, mit den Gewerkschaften, sehen Sie Wege zur Lösung dieses drängenden Problems.

Damit knüpfen Sie nicht nur an Walter Dirks an, sondern auch an Ihre ganz persönliche Familiengeschichte, an die Tradition Ihres Vaters, des christlichen Gewerkschafters Alois Leuninger, der 1933 seine Arbeit verlor und als Hausierer in den Westerwald und in den Widerstand ging, an die Tradition Ihres Onkels Franz, der noch zwei Monate vor Kriegsende von Hitlers Schergen in Plötzensee hingerichtet wurde.

Damals, im Nationalsozialismus, hätte nur die Flucht die Familie Leuninger vor Leid und Tod bewahren können. Aber wohin fliehen - mit drei kleinen Kindern und ohne Geld?

Und damit wären wir beim zweiten Träger des Walter Dirks-Preises 1998, bei Ihnen, sehr verehrter Herbert Leuninger. Flucht vor der Nazidiktatur war Ihrer Familie nicht möglich. Diese Erfahrung hat Sie geprägt. Wenn es heute um Schutz für Flüchtlinge geht, um Schutz für Kinder, Frauen, Männer, die vor der Gewalt, dem Hunger, dem Terror fliehen müssen, fällt auf der ganzen Welt Ihr Name. "Pro Asyl" haben Sie als Flüchtlingspfarrer des Bistums Limburg aufgebaut. Und das Land Hessen hat Ihnen deswegen auch mit der Wilhelm Leuschner-Medaille gedankt.

Es war übrigens keine einfache Entscheidung, denn für keinen Politiker sind Sie ein einfacher Partner. Und viele haben Sie kritisiert, und ich will, meine Damen und Herren, auch den Schwierigkeiten gar nicht ausweichen. Auch heute bei einer solchen Rede nicht. Denn sicher ist es richtig, und es kann nur so sein, daß Verfolgte Asyl finden, Schutz finden müssen. Aber auch, und ich bin bereit, mich auch auf streitiges Gelände zu begeben: sicher ist es so, daß wir nicht alle wirtschaftlichen Probleme, vor denen Menschen ja verständlicherweise zurecht fliehen - und die Jahrhunderte sind voll von Menschen, die deswegen fliehen müssen, weil sie für sich und ihre Familie in ihrer Heimat kein Auskommen finden, aus Deutschland, aus dem Schwarzwald, aus dem Odenwald nach dem Krieg, noch als Konrad Adenauer nach Kanada oder Australien fuhr und fragte: Könnt ihr nicht Flüchtlinge aufnehmen? Wir schaffen es nicht." Und aus allen anderen Teilen der Welt auch.

Wir müssen sie alle als Menschen behandeln. Aber ich glaube auch, wir sollten endlich soweit sein, dafür zu sorgen und zu intervenieren - je länger ich darüber nachdenke, umso mehr komme ich zu dem Ergebnis, daß die Menschen in ihrer Heimat eine Möglichkeit für sich und ihre Familien finden müssen.

Und das heißt: offensiv intervenieren dort, wo die Menschenrechte mit Füßen getreten werden, und das heißt: offensiv intervenieren dort, wo die sozialen Grundrechte der Menschen mit Füßen getreten werden, und es nicht durch Auswanderung lösen wollen. Das wird immer nur einer ganz kleinen Gruppe von Menschen wirklich helfen. Wir müssen allen zu einem vernünftigen Leben in ihrer Heimat verhelfen. Das ist meine Position, und im Einzelfall muß man über die Abgrenzung - das ist wohl wahr - und was wir dann leisten können, streiten. Auch um die Frage: wieviel an Integrationskraft hat diese Gesellschaft?

Und das Gallus ist voll von diesen Fragen und leistet mehr - das möchte ich aber auch ausdrücklich sagen - als viele andere Stadtteile in vielen anderen Städten, in denen nicht so viele Menschen so unterschiedlicher Nationalität und kultureller Herkunft leben. Das wird übersehen.

Seit Sie, sehr verehrter Pfarrer Herbert Leuninger, sich aus der Arbeit hier in der Bundesrepublik ein bißchen herausgezogen haben, erheben Sie Ihre Stimme für die Zufluchtsuchenden bei der Europäischen Union in Brüssel. Und da liegt auch ein Schwerpunkt unserer Entwicklungsarbeit für andere Regionen. Und Ihre Stimme ist dabei durchaus nicht immer leise und zurückhaltend. Das hatte ich schon angedeutet. Denn das Unrecht, das Sie anprangern müssen, um Menschenleben zu retten, kommt sehr laut, sehr gewalttätig daher: die es propagieren, tragen Springerstiefel und Glatzen, schlagen mit Baseball-Schlägern zu, zünden Häuser und Menschen an. Aber sie sitzen auch hinter Schreibtischen mit Akten und in Redaktionen. Da sind sie leiser, aber genauso wirkungsvoll. Sie haben Rückenwind - immer mehr, je mehr Menschen keine Arbeit, kein Brot mehr finden können bei uns. Eine Szenerie, die viele Ältere an die längst überwundene Zeit von vor 60, 70 Jahren erinnert.

Aber auch hier möchte ich Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren, an weiter zurückliegende Wurzeln erinnern. 1848 hat Jakob Grimm den Asylartikel der Paulskirchen-Verfassung formuliert. "Deutscher Boden duldet keine Knechtschaft. Fremde, Unfreie, die auf ihm verweilen, macht er frei!" 1849, als die Demokraten besiegt, viele eingekerkert, erschossen wurden, da fanden tausende Davongekommene in anderen Ländern Asyl.

In der Schweiz und in England die mutigen Hanauer Turner und ihr Führer August Schärttner, in Frankreich der Dichter und Kämpfer Georg Herwegh und seine tapfere Frau und Kampfgefährtin Emma, in den USA der badische Revolutionsführer Friedrich Hecker und die Streiterin für Frauenrechte, Mathilde Franziska Annecke. Die Tradition der Demokratie ist auch die Tradition des Rechts auf Asyl. Darin erinnern Sie, sehr geehrter Pfarrer Leuninger, ebenso hartnäckig wie wirkungsvoll. Sie haben Überzeugungskraft und einen langen Atem, auch bei Gegenwind. Das scheinen - neben der christlichen Überzeugung - die wichtigsten Familieneigenschaften der Leuningers zu sein. Auch dies Eigenschaften, die Sie beide mit Walter und Marianne Dirks teilen.

Zur Entscheidung, den Walter Dirks-Preis 1998 an die beiden hessischen Bürger, die Brüder Herbert und Ernst Leuninger zu verleihen, kann ich der Jury nur gratulieren. Ich bin als Hessischer Ministerpräsident dankbar dafür, daß die beiden Leuningers hier bei uns in Hessen zu Hause sind: ihre widerständige Heimat, oder den Widerstand in der Heimat gefunden haben. Und ich bin dankbar für die Initiative hessischer Bürgerinnen und Bürger, an demokratisches Engagement aus christlicher Überzeugung zu erinnern und es auszuzeichnen. Solange es unter uns Menschen wie Sie gibt, sehr verehrter Ernst und Herbert Leuninger, sehr geehrter Pfarrer Nieten, liebe Mitglieder der St. Gallus-Gemeinde - solange ist mir um die Demokratie in unserem Lande nicht bange.